Den Blick heben, links oben, von dir gesehen, Nordost,
wo die Bäume spärlich stehen, die Hügel rebenüberzogen, Reihe um
Reihe.
Den Tag wirklich beginnen und nicht einfach aus dem vorigen aufstehen,
alles mit herübertragen über die Brücken, die wir von einem Kissen zum
anderen schlagen.
Über diesen flachen Hügeln kommt der Sonnenaufgang schneller,
die Windräder liefern ihn in Scheiben geschnitten frei Haus.
Das hier ist Grenzland, vom einen bis zum anderen Ende, Grenzland,
durch und durch, und kein Schatten beschützt es vor der einfallenden
Sonne.
Ich will den fliehenden Inseln aus hingedachten Wolkenherden folgen,
über die frühleere Autobahn, befahren von Schlafwandlern, die sich doch
einreden
sie würden einen Traum leben (der wird hier noch mit dem Fahrrad zugestellt,
man bewahrt ihn in Strümpfen unter den Betten auf).
Sich umwenden.
Den Blick heben, rechts oben, von dir gesehen, Nordwest,
Schlagschatten sein an diesem noch zerknitterten Morgen, unfertig
ausgebreitet –
Eine ganze Welt auf einem Podest bereitet sich vor auf ihren Auftritt, ein
alt gewordener Zirkus
ohne Direktor, der noch Magier und traurige Clowns in seinem Repertoire
hat, ein letztes Pferd; keinen Hut – an wandern ist nicht mehr zu denken.
Man kaut an den hart gewordenen Kanten Gnadenbrot.
Hinter jedem hingeschnitzten Hoftor ein eigener kleine Staat, mit einer Hunde-
oder Katzenbevölkerung, und niemand wäre jemals wahlberechtigt,
während sich die kleinste Minderheit an der Macht wähnt; und
an den äußeren Mauern die Wasserzeichen der Jahre – so hoch
kommts! – und ängstlich gelauscht
nach dem Dammbruch.
Sich umwenden.
Den Blick heben, rechts unten, von dir gesehen, Südwest,
über den Fluss, wo aufgeplatztes Fallobst den Morgentau süßt, so
bleiben hier die Wiesen apfelhonigüberzogen (hier grasen die wohl
glücklichsten Kühe der Welt);
Und pockennarbig die Szene; mit kleinen Städtchen,
deren Kirchtürme Luftlöcher in den vorüberziehenden Tag stechen,
Laufmaschen
von heiligem Geist. Dazwischen gestreut wie Spielpläne die Felder,
auf die jemand seine Bauern gesetzt; und
bergwehverheißend zeigt sich randseits der Ebene der erste Faltenwurf
im frisch gestärkten Kleid, manchmal, wie heute, weithin sichtbar.
Die Vögel gehen zu Fuß aus der Nachtschicht nach Hause auf entschleunigten Straßen
an denen sich die Eiligen in liebevoller Umarmung mit Bäumen tref-
fen; grün ist gut für die Augen.
Sich umwenden.
Den Blick heben, links unten, von dir gesehen, Südost,
nach Schwarzerde und Molasse; sich die Hände an das Becken legen, mit den Fingern
an die Knochen tippen, einmal noch seufzen, einmal noch nicken und
schrittaus –
schon nähert sich Mittag, nutzen die Arbeiter einen Moment um unbeobachtet
ihre Köpfe auf die Maschinen zu betten, von Föhren zu träumen (den Sieg
über ein
pannonisches Heer); – und von schleichenden Nebeln, die sich zum Abend
hin über den Ausümpfen sammeln, um das Eintauchen der Eisvögel zu verstecken,
den lautlosen Fang. Was bleibt sind die Graureiher, mit Sehnsucht nach andersfarbigem Gefieder, was bleibt ist ein Seufzen, was bleibt ist das Wissen
um freilaufenden Schildkröten, was bleibt ist ein Steinfeld, und dort:
das Herz, dass nicht mehr dir gehört; altersklein geworden
unter grünbemooster Haut.
Erstveröffentlichung in
„LICHTUNGEN“ 132/XXXIII. Jg.
Comments
„Schlagschatten sein“ – schon auf der tonalen Ebene ein Genuss. Solch geruhsame Stauungen von Sprache gelingen dir exzellent und häufig!
Vielleicht statt Gnadenbrot: „Zwieback aus Gnade“ oder so etwas? Sonst reimt es sich etwas unschön auf Hut, beim Lesen. Nur ein Eindruck.
„aufgeplaztes Fallobst den Morgentau süßst“ der Satz bricht natürlich geradezu in einen ein. Wunderbar akzentuiert. Danach wird dieses Bild etwas überstrapaziert. Vielleicht also lieber wieder die Abkehr zu etwas seichteren/sanfteren Lichttönen; klar, das satte soll betont werden, aber vielleicht nicht so vollmundig, glatter, ein klein wenig spärlicher, mit weniger Tiefe, um die einheitliche Stimmung des Gedichts zu bewahren.
„Laufmaschen von heiligem Geist“ – super! (Habe es erst umgekehrt gelesen: „vom heiligen Geist“)
„Dazwischen gestreut wie Spielpläne die Felder“ – nicht eher glatt angelegt, oder einfach gelegt, streuen klingt etwas zu willkrlich. Entschuldige, es ist dein Bild; ich will auch nicht belehren, nur hinweisen – du prüfst dann selbst und deine Entscheidung ist richtig.
Der letzte Absatz: Durch und durch filigran und gut!
Ein Gedicht, das ich sehr gern gelesen habe. Klar und bestimmt, dabei die Ruhe in der Anwesenheit der Dinge am Morgen (und nicht in ihrer Abwesenheit, am Tage), wunderbar eingefangen. Ein „landschaftlich“ beeindruckendes Gedicht!
LG
T.
Danke für die intensive Auseinandersetzung mit meinem Text. Da er aber bereits mehrfach veröffentlich, verfilmt und übersetzt ist, werde ich wohl keine Änderungen mehr daran vornehmen. LG
Liebe Cornelia,
es mag ein wenig unverschämt sein, sich ungefragt hier einzumischen. Allein, wenn ich die Zielsetzung der Website richtig verstanden habe, gehts um den Austausch über Dichtung. Daher stellt sich für mich die Frage, wozu Du dann einen Text hier veröffentlichst, der für Dich ohnehin schon abgeschlossen ist. Das zum einen. Zum anderen: sei doch froh, wenn Du eine differenzierte Antwort bekommst. Kann doch nicht schaden. (Wenn Du natürlich Timos Argumente nicht überzeugend findest, kannst Du doch darauf antworten: so kann sich ein hilfreicher Austausch entspinnen über Möglichkeiten und Verfahrensweisen von Gedichten. Und über die Möglichkeiten von Kritik.)
In der Hoffnung, dass Du den Einwurf nicht als unangemessen empfindest, verbleibt mit besten Grüßen —
moritz