Lautdichtend unternahmen etwa Dadaisten oder Antonin Artauds Hörspiele Angriffe auf den Bedeutungszwang der Sprache: nicht was gesagt wird, ist von Bedeutung, sondern wie. Die „Lautlichkeit des Lauts“1 befreit Sprache aus gesellschaftlichen Zwängen – und mit ihr den gleichsam an Konventionen gebundenen Mensch. Dies macht Artaud zufolge „Wörter zu Zauberformeln“, lässt „Rhythmen rasend auf der Stelle treten“2. Er, der das Theater vov der Handlung erlöste3, verlangte, an der Quelle der Sprache anzusetzen: (…) man braucht nur die Wörter wieder mit den körperlichen Bewegungen, die sie hervorgebracht haben, zu verknüpfen, die logische, diskursive Seite des Wortes hinter seiner körperlichen, gefühlsmäßigen verschwinden zu lassen (…)4 und erhob die Aussprache zur poetologischen Grundlage:
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Alle Verse wurden geschrieben, damit sie zuallererst angehört werden, durch die gewaltige Fülle der Stimme konkretisiert werden; und es ist nicht einmal so, dass ihre Musik sie erhellt und sie dann mit einfachen Tonmodulationen sprechen könnten, Ton für Ton: denn nur jenseits der gedruckten oder geschriebenen Seite kann ein authentischer Vers sinnvoll werden und er bedarf dazu des Atems zwischen der Flucht aller Wörter.5
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Ähnliches fordert Hugo Ball:
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Man verzichte mit dieser Art Klanggedichte in Bausch und Bogen auf die durch den Journalismus verdorbene und unmöglich gewordene Sprache. Man ziehe sich in die innerste Alchemie des Wortes zurück, man gebe auch das Wort noch preis, und bewahre so der Dichtung ihren letzten heiligen Bezirk. Man verzichte darauf, aus zweiter Hand zu dichten: nämlich Worte zu übernehmen (von Sätzen ganz zu schweigen), die man nicht funkelnagelneu für den eigenen Gebrauch erfunden habe. Man wolle den poetischen Effekt nicht länger durch Maßnahmen erzielen, die schließlich nichts weiter seien als reflektierte Eingebungen der Arrangements verstohlen angebotener Geist-, nein Bildreichigkeiten.6
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Ausgerechnet die Protagonisten der Lautpoesie machen den Überlegungen zur „Wildheit“ der Sprache aber einen Strich durch die Rechnung. Wie Michael Lentz in seiner umfassenden Studie zur Lautpoesie nach 1945 auflistet, umfasst diese Dichtungsgattung beispielsweise Poésie sonore, (Ultra-)Lettrismus oder die Métapoésie.7 Damit gehen zwangsläufig Abgrenzungsversuche zu anderen (lautdichterischen) literarischen Strömungen einher; die zu Beginn gegen den herkömmlichen Sprachgebrauch gerichtete, neuartige poetische Sprachweise entwickelt eigene Konventionen, wie Lentz anhand von Franz Mon verdeutlicht:
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Spricht Mon von stöhnenden, atmenden, hechelnden, gurgelnden, kreischenden und lachenden Lautzeichen, die „in den außeralphabetischen Bereichen gebildet werden“, und „in dem Zusammenhang, in den sie erscheinen, ihre Bedeutungen gewinnen“, so richtet er die Aufmerksamkeit nicht nur auf die Verwendung der Stimme in lautpoetischen Bereichen und die in diesen ästhetisch produktiv werdenden Erweiterung der ‚überlieferten‘ stimmlichen Schriftlichkeit, sondern auch auf die lautpoetisch mehr oder weniger bewußt aktivierten, vom Hörer in ihrer Gestalt zu ergänzenden kontextuellen bzw. situativen Bezüge, womit (…) ein die Buchstaben- und lautliche ‚Materialität‘ von phonetischer oder Lautpoesie gleichsam überlagernder Aspekt von kommunikativen Sprachhandeln thematisiert wird: Selbst noch die arktikulatorische Gestik ist nämlich bedeutungstragend.8
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Mon entwickelte einen noch vor der Wortbedeutung ansetzenden Sprachbegriff, indem er emotionale und gestische Ausdrucksmöglichkeiten einbezog, bzw. emotionsbesetzte „allerprimitivste Schallerzeugnisse“ wie z. B. Schnalzen, Räuspern, Husten und Schmatzen als „unterste Materialschicht“ des Sprechens auffasste.9Die Frage, ob dies eine neue Semantik bedingt, es ein Außerhalb unserer Sprache gibt, das der Lautpoesie zur Verfügung steht, oder aber die Dichtung in jeglicher (Sprech-)Art nach herkömmlichen Spielregeln zu funktionieren hat, steht zur Diskussion:
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Natürlich kann kein Lautgedicht dem Bezug zur Sprache und zum Sprachgebrauch entgehen, weil die Laute auch in den ungewöhnlichsten Zusammensetzungen nicht aufhören, diejenigen Zeichen zu sein, als die sie üblicherweise fungieren. Lautgedichte greifen auf sprachliches Material zurück, und vom Materialcharakter der Sprache läßt sich […] überhaupt nur dann angemessen reden, wenn man zumindest die semantischen Tendenzen dieses Materials grundsätzlich einrechnet; mithin scheint es unter diesen Voraussetzungen nur konsequent, auch für die phonetische Poesie eine semantische Komponente geltend zu machen. […] Indem sich Lautgedichte sprachlichen Materials bedienen, können sie sich also von der Tendenz, etwas zu bezeichnen, nicht gänzlich freihalten. Allerdings ist hier nicht die übliche Semantik sprachlicher Äußerungen gemeint, sondern eine Verweisungsmöglichkeit, die sich provisorisch mit einem Begriff wie „Para-Semantik“ beschrieben ließe.10
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Ob Para-Semantik oder Rimbaud’sche Fackel, auffällig ist die starke Ausdifferenzierung der verschiedensten Poetiken, vom Lettrismus Isidore Isous bis hin zur phantasievollen Umsetzung Dieter Schnebels:
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Einen radikalen Versuch unternahm diesbezüglich Dieter Schnebel mit Maulwerke für Artikulattionsorgane und Reproduktionsgeräte (1968-74). Zum „MAULWERKE-Prozeß“ merkt Schnebel an: „Die eigentlichen Ausführenden sind die Artikulationsorgane, und die Musik der MAULWERKE besteht aus den äußeren und inneren Vorgängen des Artikulierens.“ Die prozessuale multimediale Komposition ist untergliedert in vier „Schichten“: ATEMZÜGE […], wo in erster Linie Lungen und Zwerchfell tätig sind und ein Luftstrom gebildet wird. KEHLKOPFSPANNUNGEN & GURGELROLLEN […], wo die Kehlkopfregion aktiv wird und jener Luftstrom vorstrukturiert wird. MUNDSTÜCKE […], wo Zungen- und Lippenbewegungen gebildet werden und dadurch der Luftstrom noch zusätzlich Brechung und Strukturierung erfährt.11
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Als Beispiel der Vielfalt des Wechselspiels von Körper und Dichtung mag Pierre Albert-Birot dienen, der den Tanz in die Poesie holt und sich im Interview mit Michael Lentz im eigenen ästhetischen Selbstverständnis gegen rezeptive Schubladisierungen seiner „Poèmes à crier et à danser“ als dadaistische Tradition abgrenzt:
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Im Gegensatz zu Dada war es keineswegs meine Absicht, das Wort seines semantischen Sinnes zu entleeren und nur nach das Phonem, den Laut zurückzubehalten, sondern ich wollte den Laut mit der Bewegung verbinden, um damit zwischen dem Wort und der Musik zu stehen, was schließlich ja auch der Platz der Poesie sein könnte.12
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An der Befreiung der Sprache von Sinnzuschreibungen wird auch in Empty Words von John Cage konsequent gearbeitet. In diesem Text wird im Verlauf vierer Stufen die Substantialität der Sprache in Vokal- und Konsonantenreihen aufgelöst, bis es sich gegen die Aussprache sperrt: „Erfahrungen in Sprache mit Sprache, die sie restlos ihrer Signifikanz berauben, nicht um eine andere Signifikanz zur Erscheinung zu bringen, sondern ihr Anderes schlechthin.“13
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Cage zieht dabei eine bemerkenswerte Verbindung zwischen Literatur und Musik: „(I)ch möchte mit meinem Titel auf die Bedeutung anspielen, die für musikalische Klänge charakteristisch ist (…) Daß Worte, wenn sie von einem musikalischen Standpunkt aus betrachtet werden, alle leer sind.“14 Die Textkompositionen von John Cage erschließen sich live, nicht durch die stille Lektüre. In dieselbe Kerbe schlägt der niederländische Lautpoet Jaap Blonk im Interview mit Michael Lentz, hebt er die Bedeutung des Aussprechens, bzw. Hörens, hervor:
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Sound Poetry wird nur lebendig, wenn man sie hört. […] Einen weiten Bereich zwischen gewöhnlicher Sprache (gewöhnlichem Sprechen/Reden) und Singen umfassend, kann sie viele Gestalten annehmen: Gedichte in Phantasiesprache, geschriebener Text in selbsterfundenen Symbolen/Zeichen oder Geräusche der Stimme, die überhaupt nicht notiert werden können. Gute sound poetry ist sehr direkte Kommunikation, die unmittelbar (laut) sprechende menschliche Stimme, die sich keine Gedanken macht über Bedeutungen. Der Einbildungskraft (Phantasie) des Zuhörers ist es erlaubt, frei umherzuschweifen, ohne durch Worte gelenkt zu werden (natürlich/selbstverständlich habe ich auch einige Stücke aufgenommen, die dieser Feststellung wiedersprechen (sic) sollen!)15
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Blonk rührt damit an einem schwierigen Punkt: Da das Hören und Sprechen – die „direkte Kommunikation“ – im Vordergrund steht, ist Lautpoesie anderen Qualitätsmerkmalen unterworfen, als etwa Text in gedrucktem Format, und verlangt (ausschließlich) nach dem Live-Erlebnis. Audioaufnahmen oder Videos können zwar einen Eindruck vermitteln, bilden aber keinen adäquaten Ersatz.
Na dann:
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1Mersch, Dieter: Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis. München 2002 (Wilhelm Fink Verlag), S. 114
2Artaud, Antonin: Das Theater und sein Double. München 1996 (Matthes & Seitz), S. 97
3Zu Hintergründen und Anliegen Artauds und insbesonders des „Theaters der Grausamkeit“ siehe:Artaud, Antonin: Schluss mit dem Gottesgericht. Das Theater der Grausamkeit. Letzte Schriften zum Theater. München 1980 (Matthes & Seitz)
4Artaud, Antonin: Das Theater und sein Double. München 1996 (Matthes & Seitz), S. 128
5Artaud, Antonin: Van Gogh, der Selbstmörder durch die Gesellschaft, München 1997 (Matthes & Seitz) S. 61ff
6Ball, Hugo: Die Flucht aus der Zeit. Zürich 1992 (Limmat Verlag), S. 106
7Vgl Lentz, Michael: Lautpoesie/-musik nach 1945. Eine kritisch-dokumentarische Bestandsaufnahme. Band 1. Wien 2000 (edition selene), S. 36ff
8Lentz, Michael: Lautpoesie/-musik nach 1945. Eine kritisch-dokumentarische Bestandsaufnahme. Band 2. Wien 2000 (edition selene), S. 794
9Ebd. S. 796
10Scherer, K.R.: Die Funktionen des nonverbalen Verhaltens im Gespräch. In: D. Wegner (Hg.): Gesprächsanalysen. Hamburg 1978 (Rowohlt), S. 278
11 Lentz, Michael: Lautpoesie/-musik nach 1945. Eine kritisch-dokumentarische Bestandsaufnahme. Band 1. Wien 2000 (edition selene), S. 85
12Ebd. S. 112. Albert-Birot fügt der Herkunft der Sprache in Schrei und Lärm interessanterweise einen weiteren Aspekt hinzu, nämlich jenen der Bewegung: „Ich glaube, Bewegung und Schrei sind die ersten Dichter der Menschheit gewesen. Ich bin also zum Höhlenmenschen geworden, ich habe versucht, auf meine Art mit unserer Sprache und unseren Silben die Frische dieser Poesie der ersten Menschen nachzuvollziehen.“
13 Mersch, Dieter: Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis. München 2002 (Wilhelm Fink Verlag), S. 115
14Cage, John: Empty Words. Frankfurt am Main 1983 (Suhrkamp Verlag), S. 61
15Lentz, Michael: Lautpoesie/-musik nach 1945. Eine kritisch-dokumentarische Bestandsaufnahme. Band 1. Wien 2000 (edition selene), S. 76ff