Stimmfleisch: Drei (Ekstasis, Aura und Präsenz)

In Lyrik im Livemodus by Robert Prosser0 Comments

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Die theoretische Beschäftigung mit (literarischer) Performanz wird wesentlich von Begriffen wie „Ekstasis“, „Aura“ und „Präsenz“ geprägt. Um das Ereignis, welches den Rahmen für das In-Aktion-treten solcherart bezeichneter (Wahrnehmungs-) Phänomene bildet, auszulösen, ist die Miteinbeziehung des Publikums vonnöten; eine Behauptung, die in ihrer Verlagerung der Hierarchien an den „Tod des Autors“ von Roland Barthes gemahnt, und von Erika Fischer-Lichte wie folgt skizziert wird:

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(…) eine Aufführung wird durch die leibliche Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauern konstituiert. Sie entsteht aus der Begegnung und Interaktion aller Teilnehmer. (…) Während die Akteure handeln, d.h. sich durch den Raum bewegen, Gesten ausführen, Objekte manipulieren, sprechen und singen, nehmen die Zuschauer sie wahr und reagieren auf sie. Zwar mögen diese Reaktionen teilweise als rein >innere<, d.h. imaginative und kognitive Prozesse ablaufen, überwiegend handelt es sich jedoch um Reaktionen, die von Akteuren und anderen Zuschauern wahrgenommen werden können. Auch diese Wahrnehmungen resultieren wiederum in wahrnehmbaren Reaktionen. Was immer die Akteure tun, hat Auswirkungen auf die Zuschauer, und was immer Zuschauer tun, hat Auswirkungen auf die Akteure und die anderen Zuschauer. In diesem Sinne lässt sich behaupten, dass die Aufführung immer erst in ihrem Verlauf entsteht. Sie erzeugt sich sozusagen selbst aus den Interaktionen zwischen Akteuren und Zuschauern. Daher ist ihr Ablauf auch nicht vollständig planbar und vorhersagbar. Dem autopoietischen Prozess ihrer Entstehung eignet vielmehr ein hohes Maß an Kontingenz. Was in ihrem Verlauf in Erscheinung tritt, ist bei Beginn der Aufführung nicht vorauszusehen.1

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Als Praxisbeispiel einer solchen „leiblichen Ko-Präsenz“ sei das Orgien-Mysterien-Spiel von Hermann Nitsch genannt. Nitsch beschreibt seine Aktionen als Möglichkeit der Katharsis, die die Mitwirkenden durch die Erfahrung des rituellen Schlachtens und Kreuzigens von Tieren erleben.2 Die Grenzen zwischen Künstler_Innen und Publikum sind fließend – das Kunstwerk, bzw. das Ereignis, kann nur durch die beidseitige Interaktion erschaffen werden. Von Seiten der Rezipienten, bzw. nunmehrigen Ko-Akteuren, wird die Bereitschaft gefordert, sich ins Ereignis einzulassen: „Bedingung dafür ist das Ereignenlassen des Sichzeigens.“3 Dieser Moment der Überraschung wird von Dieter Mersch als „Ekstasis“ bezeichnet:

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Das Wort „Ekstasis“ spricht dabei im buchstäblichen Sinn das In-Erscheinung-treten selbst oder das Aus-sich-heraus-stehen an, das sich von sich her ereignet und nicht in anderem gründet oder ihm zugewiesen werden kann: Transzendenz des Gegebenen, die der Nähe, der Gegenwart in seiner Gegenwärtigkeit entspringt.4

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Eine solche Erfahrung erhält verschiedenste Namen verpasst, die einer gemeinsamen Intention folgen: jenen Augenblick der Spannung und Energie greifbar zu machen, der Kreation und Rezeption von Kunst in ein tiefgreifendes Erleben wandelt. Theodor Adorno schreibt vom „Magischen“ und Walter Benjamin konstatiert ähnliches:

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Die Spur ist Erscheinung einer Nähe, so fern das sein mag, was sie hinterließ. Die Aura ist Erscheinung einer Ferne, so nah das sein mag, was sie hervorruft. In der Spur werden wir der Sache habhaft; in der Aura bemächtigt sie sich unser.5

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Roland Barthes sieht das „Sich-zeigen“ eines Kunstwerkes dem Satori des Zen-Buddhismus verwandt. Er zielt auf ein Wahrnehmen von Kunst, das nicht in einem magischen oder auratischen Gefühl mündet (und dadurch nicht Gefahr läuft, in den Graubereich der Erhabenheit zu torkeln), sondern dem Rezipienten vielmehr dadurch den Boden unter den Füßen wegreißt, indem es ein auswegloses Nichts bewusst macht:

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Ein Detail bestimmt plötzlich meine ganze Lektüre; mein Interesse wandelt sich mit Vehemenz, blitzartig. Durch das Merkmal von etwas ist die Photographie nicht mehr irgendeine. Dieses Etwas hat „geklingelt“, hat eine kleine Erschütterung in mir ausgelöst, ein Satori, eine zeitweilige Leere (…) Eine Liste des Wortgebrauchs: Man sagt: „ein Photo entwickeln“; doch was beim chemischen Vorgang entwickelt wird, ist das, was nicht entwickelt werden kann, ist das Wesen (einer Verwundung), ist das, was sich nicht verwandeln, sondern sich nur in Form von Beharrlichkeit (des beharrlichen Blicks) wiederholen kann. Darin ähnelt die PHOTOGRAPHIE dem HAIKU, denn auch die Niederschrift eines Haiku läßt sich nicht entwickeln: alles ist bereits da, ohne daß das Verlangen nach einer rhetorischen Expansion oder auch nur die Möglichkeit einer solchen hervorgerufen würde. In beiden Fällen könnte man, müßte man sogar von einer lebendigen Unbeweglichkeit sprechen: an ein Detail (einen Zünder) gebunden, bewirkt eine Explosion einen kleinen sternförmigen Sprung im Glas des Textes oder der Photographie: weder das HAIKU noch das PHOTO lassen einen ins Schwärmen geraten.6

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Die Ästhetik des Performativen dagegen löst die als Charakteristikum hervorgehobene Ko-Präsenz auf und spricht Aura und Magie vor allem der Künstlerin / dem Künstler zu, dank Bühnenpräsenz zur bestimmenden Instanz geworden:

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Wenn von Präsenz eines Akteurs die Rede ist, so ist unter anderem gemeint, dass er den Raum besetzt und beherrscht, sodass er die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf sich zieht, und dass ein Strom von Energie von ihm auszugehen scheint, der die Zuschauer trifft. In Aufführungen wirkt so der phänomenale Leib der Akteure mit seinen je besonderen physiologischen, affektiven, energetischen und motorischen Zuständen unmittelbar auf den phänomenalen Leib anderer ein. Mit den Prozessen der Verkörperung, mit denen der Akteur seinen phänomenalen Leib und damit zugleich den performativen Raum jeweils neu und anders hervorbringt, wird häufig auch zugleich sein semiotischer Körper als ein Signifikant hervorgebracht, der auf eine Figur, eine symbolische Ordnung oder anderes verweist. Dabei sind phänomenaler Leib und semiotischer Körper unlösbar miteinander verknüpft. Während allerdings der phänomenale Leib durchaus ohne den semiotischen Körper gedacht werden kann, ist das Umgekehrte nicht möglich.7

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Wie ein Großteil der bisher aufgetauchten Schlagwörter ist auch „Präsenz“ ein schwer greifbarer, schwammiger Begriff. Der Leiblichkeit des Performers wird eine auratische Macht zuerkannt, welche sich der gesellschaftlichen Kultur entzieht – es wird gesprochen, ohne etwas zu sagen, da „(…) der eigne Leib nie nur als determinierende Struktur, als Schrift erfahren wird. Weder fügt er sich einem natürlichen Symbolismus noch den Insignien kultureller Einschreibung, auch wenn die Dressur unleugbar zur sozialen Existenz gehört.“8

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Eine solche (im Sinne Merleau-Pontys „fleischliche“) Präsenz bedeutet demnach, dass der dem semiotischen Körper vorgelagerte und diesen bedingende, „phänomenale Leib“ des Auftretenden die „phänomenalen Leiber“ des Publikums in den Bann zieht, und es eine Form von Energie gibt, die zwischen der Sinnlichkeit der Anwesenden zirkuliert, mit dem phänomenalen Leib des Performers als Zentrum. Wie diese Energie beschaffen sein könnte, bleibt offen; eine mögliche Antwort bietet Regisseur und Theateranthropologe Eugenio Barba, der sich mit Kathakali, einer expressiven Form indischen Tanzdramas, beschäftigte:

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Die zahlreichen und komplexen Regeln, die die Schauspieler und Tänzer Indiens, Balis, Chinas und Japans in einen Panzer aus vorgegebenen Zeichen einzuzwängen scheinen, sind in Wahrheit Mittel, die Energie zu formen und in Kommunikationen zu verwandeln. (…) Ähnlich war es bei den Schauspielern der Commedia dell‘ Arte, bei den mittelalterlichen Gauklern, den Jongleuren und (spanischen) Jogglars sowie bei den griechischen Schauspielern, sofern man das nach den überlieferten Bildern beurteilen kann.9

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Barba verortet das Präsenzpotential in den körperlichen und technischen Fähigkeiten des Auftretenden. Interessant ist, dass diese nicht außerhalb der Zeichen agieren, sondern einem strengen Regelwerk folgen, ihre Körper also einer bestimmten Semiotik unterwerfen. Wir berühren hier bereits einen Kritikpunkt, der in diesen Ausführungen eine wichtige Rolle einnimmt: Die Ästhetik des Performativen fordert zwar den phänomenalen Leib ein, stellt diese Forderung aber im Raum der Kunst, der zugleich ein Raum der Inszenierung und Künstlichkeit ist – zweischneidig, wie vieles an einer Ästhetik ist, die in der Gleichzeitigkeit von freiem Ausdruck und sozialer Konvention agiert. Laut Barba ermöglicht es gerade das strenge Rollenspiel des Kathakali Energie, bzw. Präsenz freizusetzen:

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Ich konnte nicht begreifen, warum orientalische Schauspieler selbst dann, wenn sie nur eine technische Demonstration zeigten, trotzdem diese sehr eindrucksvolle Qualität der Präsenz bewahrten. In solch einer Situation interpretiert der Schauspieler nichts, noch drückt er irgend etwas aus. Dennoch scheint er in sich einen Energiekern zu bergen, der von ihm ausstrahlt, den wir wahrnehmen, der uns berührt, unsere Aufmerksamkeit und unsere Sinne fesselt. Jahrelang glaubte ich, daß es eine Frage der Technik sei. Indem ich jedoch versuchte, diese Definition zu erweitern, wurde mir bewußt, daß das, was wir Technik nennen, im Grunde nichts anders ist als eine spezifische Nutzung des Körpers.10

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Letztlich lässt sich in fernöstlicher Theater- und Tanzkunst die Ausstrahlung durch körperliche Positionen und entsprechenden Bewegungen generieren. Barba nennt als Beispiel die Technik, vor der vorgegebenen Aktion gegenläufig zu handeln, etwa – stark vereinfacht dargelegt – bevor man den Kopf nach links dreht eine Drehung nach rechts auszuführen, bzw. erläutert er die Wirkung, die theatralisch geschulte Augen und Blicken zu erzeugen vermögen. In einem Gespräch mit dem Theaterseminologen Franco Ruffini erklärt Barba:

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Unter anderem ist Theater der Augenblick, in dem eine Person anfängt, um sich herum eine Energie zu verbreiten, die sich von der alltäglichen unterscheidet. Damit zieht sie automatisch unsere Aufmerksamkeit auf sich, und sie fasziniert uns. (…) Das Geheimnis ist: Wie kann man Energie ausstrahlen, ohne sie zu verschwenden, wie kann man sie so auf einen Widerstand konzentrieren, daß Geschwindigkeit und Gewicht sich in Kraft verwandeln? (…) Die Energie stößt auf ein Hindernis und transformiert sich. Ein dramatischer Augenblick wird geboren.11

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Und bevor im nächsten Teil von STIMMFLEISCH diesem Balanceakt zwischen Technik und Aura anhand des Phänomens der Stimme weiter nachgegangen wird, zum Abschluß Kathakali-Augenübungen –  um dem eigenen Alltag zu vermehrter Präsenz zu verhelfen, sei das Nachmachen vehement empfohlen:

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.Und

1 Fischer-Lichte, in: Muser, Uhl: Wie wir uns aufführen. Performanz als Thema der Kulturwissenschaften. Löcker Verlag 2006, S. 16ff

2 Zwar handelt es sich bei den Mitwirkenden der von Nitsch dirigierten Rituale um keine Zuschauer per se, die von der Aktion überrascht werden, sondern um Freiwillige, denen Ablauf und Anforderungen bekannt sind, welche (persönlichen) Erfahrungen die jeweiligen Aktionen aber bereithalten, können sie höchstens erahnen – die in den Mysterien-Spielen partizipierenden Menschen sind demnach als eine eigene Art von Publikum anzusehen. Vgl. Nitsch, Hermann: Orgien Mysterien Theater / Orgies Mysteries Theatre. März Verlag,Darmstadt 1969

3Mersch, Dieter: Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis. Wilhelm Fink Verlag 2002, S. 89)

4Ebd. S. 73

5Benjamin, Walter: Das Passagenwerk: Der Flaneur, in: Ders., Gesammelte Schriften, V. 1, Suhrkamp 1982, S. 560

6Barthes, Roland: Die helle Kammer. Suhrkamp 1989, S. 59ff

7Fischer-Lichte, in: Musner, Uhl: Wie wir uns aufführen. Performanz als Thema der Kulturwissenschaften. Löcker Verlag 2006, S. 23ff)

8Mersch, Dieter: Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis. Wilhelm Fink Verlag 2002, S. 69)

9Barba, Eugenio: Jenseits der schwimmenden Inseln. Rowohlt Verlag 1984, S. 100

10Barba, Eugenio: Jenseits der schwimmenden Inseln. Rowohlt Verlag 1984, S. 124

11Barba, Eugenio: Jenseits der schwimmenden Inseln. Rowohlt Verlag 1984, S. 74

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