Wolfdietrich Schnurres lyrisches Werk

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Heute nahezu unbeachtet und doch einst eine feste Größe – das Vermächtnis des Schriftstellers Wolfdietrich Schnurre scheint ebenso wage zu sein, wie das von anderen großen deutschen Schriftstellern und Dichtern der 60er und 70er Jahre, wie etwa Nicolas Born oder Erich Fried. Autoren, die uns heute immer noch viel zu sagen haben, auf gewisse Weise sogar klarere und unverstelltere Botschaften innehaben, als jede andere deutsche Dichtungsepoche.

 

„Es ist wenig,
was ich verlange zu wissen;
weniger als
die Obrigkeit will.

Ich begehre zu wissen,
wo es Blaubeeren gibt
und nicht: Gibt es Krieg.“

Gerade Schnurre hat mit seinen Parabeln und Gedichten einen sehr eigenen Beitrag zur deutschen Literatur geleistet; seine Gedichte sollten wieder gelesen werden: sie haben viel Biss und ihre Sprache behält leichte Dissonanz zu der damals vorherrschenden apathischen Sachlichkeit, gewährleistet aber wiederum durch eine stete Lakonie eine gewisse Verwandtschaft. Die daraus resultierende Dichtung besticht durch eine gelenkige und versierte Verbindung aus Distanz, Stimmung und lyrischer Intonationen.

„Wovon nun schweigen, worüber reden?
Das Hörbare braucht keinen Mund,
es ist geschwätzig seit je. Und so will ich
eine Stimme der Lautlosigkeit sein,

das Drohende sagen, das selten Gewohnte,
wie wenige Ohren meine Strophe auch trifft.“

Schnurre war ohne Zweifel ein engagierter Schriftsteller (als Mitbegründer der Gruppe 47 war ein kleine Legende – auch weil er angeblich oft, nachdem jemand vorgelesen hatte, erstmal sagte: „Ich glaub, das war Scheiße.“) Die Auseinadersetzung mit der Adenauerzeit, dem lange verschwiegenen Porajmos (dem Völkermord an den Roma während des Dritten Reiches)  und die Aufarbeitung der Schuld gegenüber dem jüdischen Volk haben viele seiner Prosawerke inspiriert und durchdrungen. Zwischen 1945 und 1972 hat er mehr Bücher veröffentlicht als jeder andere bekannte deutsche Autor; ein Jahr nach dem Mauerbau machte er bereits zwei Dokumentationen über das geteilte Berlin.

In seinen Versen weiß er Engagement und Kritik gut zu assimilieren oder zu tarnen. Hier kann das lyrische Ich zum Ausfall werden, in Rede und Wendung, als Hellsicht, Beobachtung und Spruch – und obwohl es seine Zunge nicht im Zaun hält, bleibt es leicht bedeckt. Die Andeutungen sind sie da, unverkennbar, und immer wieder wird der Gedanke zweischneidig, und somit viel wirksamer, weil man sich im Augenblick entscheiden muss – und eine Entscheidungsmöglichkeit, so war es in der Geschichte der Menschheit immer, wirft außerdem Fragen auf. Wichtige Fragen.

„Mein Herr und Chef, die Frage
ist nicht, wie du das zulassen
konntest, die Frage ist, wann
wirst du es ändern.
[…] Die Erde ist mit Siegen
gedüngt; und doch
herrscht die Macht.“

Kassiber, das ist eine unerlaubte Botschaft, die zwei Gefangene in einem Gefängnis oder Lager austauschen. Die frühen Gedichte Schnurres tragen oft einfach nur diesen Titel. Es sind genau abgestimmte Wortgebilde, die aber eher ihre Dimensionen einen, an statt sie zu zerstreuen. Sie treten (siehe Zitat über diesem Abschnitt) klar auf, hinterlassen aber eine evidente Frage, kein Rätsel, keine Antwort.

Die mittleren und späteren Gedichte (der Band: Kassiber und neue Gedichte fasst Schnurres lyrisches Werk sehr gut zusammen – leider ist er nur noch gebraucht oder antiquarisch erhältlich) haben ebenso etwas Bergendes, Aufgreifendes, eine geradezu natürliche Resistenz gegen das Festlegbare, ohne dabei das Konkrete oder Klare in ihrer Stimme zu verlieren. Doch in ihnen versteckt sich auch das Epische und Metamorphosische, die dann und wann die kühlnatürliche Einheit aufbricht, exzessiert und illuminiert. Trotzdem sind gerade die Gedichte der mittleren Schaffensphase wegen ihrer längeren, bedachten Passagen ungeheuer elegisch-großartig.

„Lautlos durchrinnts
meine Adern, gespiegelt
von der Erfahrung des Blutes,
der so wenige trauen. Obwohl
das so ist und man
zufrieden sein könnte,
– denn der Tod
wartet ein Leben lang, oft
muss man ihn bitten –
erlaube ich mir,
mein Ich zu vergessen,
ein Hauch nur zu sein
auf der Harfe der Furcht.“

Zu erwähnen noch: die Metaphern. Mit ihnen steht und fällt eine Lyrik nicht unbedingt, aber ihre Originalität ist meist ein guter Indikator für ein vielschichtiges und an Eindrucken reiches Werk. Sie mögen, um es so zu sagen, nicht das Licht der Lyrik sein, aber sie sind im besten Fall geschickt angebrachte Spiegel die Licht möglichst oft Hin und Her werfen, bis ein lyrischer Raum ganz neu ausgeleuchtet wird.

Schnurres Metaphern sind eindrucksvoll, manchmal innovativ und leicht kapriziös. Der Dichter muss den Moment gut abpassen, in dem er eine Wendung anbringt, die das Ganze Gedicht, letztendlich oder von da an, bestimmt. Schnurres erweißt sich oft als Meister dieser Präzision; seine Gedichte sind oft nur aus solch abgestimmten Bildern gezimmert – ja, ein Abgleiten in Bilder ist beinahe jedem seiner Gedichte irgendwo eigen und doch sind all diese Imaginationen sehr leicht und federn die Gedichte mehr, als sie zu überladen.

„Die gebrochenen Beine
des Straßenbahnläutens
sind silber geschient;
es blitzt wenn sie rennen.“

„Die Schädelnaht des Alls
ist winddurchlässig;
in Gottes Träume schneits hinein;“

Es ist erstaunlich, dass Schnurre als Dichter heute keine breitere Anerkennung mehr genießt. Vielleicht war es die leicht schäbige, brackige Seite seiner Verse, das eher Abgewetzte in seiner Sprachauswahl und seinen Wendungen und seiner Herangehensweise – was die Poesie aber teilweise erst richtig zum Glänzen bringt, wie Regenwasser, nachts, auf Pflastersteinen. Oder seine mangelnde Festlegung auf ein poetologisches Konzept jenseits des aus den Versen herausstrahlenden Engagements, jenseits der Transkribierung von Welt in eine möglichst eindrucksoffene Sprache.

Schnurre war sicher kein glatter, manikürter und rundherum strahlender Dichter. Aber ein Poet. Ein Dichter, bei dem die Worte direkt aus dem Mund eines Menschen kommen und doch auf den Feldern der Sprache sehr tiefe Wurzeln schlagen.

„und am Abend die Grille.
Ihrem Lied lausche; es rauscht
in den Adern der Stille
so sanft wie dein Blut.“

Schnurres höchste Auszeichnung blieb der Georg Büchner Preis 1983. Wahrscheinlich war sein lyrisches Werk zu schmal und in seiner Gestalt nicht universell genug, um zwischen den lyrischen Großwerken und poetologischen Theorien im Nachkriegsdeutschland zu bestehen. Aber daraus ergibt sich auch ein Vorteil: es gibt kaum ein überflüssiges Poem und wenige Verse haben den Charakter des Gelegenheitsgedichts. So ist das ganze Werk fast durchgängig von hoher Qualität. Es verbindet Schlichtheit mit hohem Anspruch; herbe Schönheit mit eigenwilliger Metaphysik. Als lyrische Erfahrung auf jeden Fall einen zweiten Blick wert.

Am 22. August dieses Jahres wäre Schnurre 93 geworden. Vielleicht wäre es mal wieder Zeit ihn zu Lesen, von der Prosa an, bis zu diesen Gedichten, mit aller Ironie und aller Hoffnung, bei welcher es uns obliegt, ob wir sie lyrisch neu verwerten, bedenken wollen – vielleicht sogar erfüllen…

„Komme, mein Tod, mit all deinen Schrecken.
Da du sie aufwendest, weiß ich, dass die Kraft
dieses Lebens dich ängstigt.“

Lektüre: Kassiber und neue Gedichte (ISBN-13: 978-3471787342)

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