Oravin
Mars! oder Die Entstehung eines audiovisuellen Gedichts
wie entsteht ein gedicht? ich torkelte durch eine unscheinbare seitengasse nahe des Berliner Hermannplatzes. soeben war ich auf einer einführung ins derwischdrehen gewesen und hatte mich eine stunde lang im kreis gedreht. mir war kotzübel.
zur selben zeit, im frühling 2013, las ich die Mars-trilogie von Kim Stanley Robertson. irgendwo auf den tausenden buchseiten zieht eine gruppe sufis durch die wüsten des Mars. auch sie tanzen den derwischtanz, und die schwache gravitation lässt sie mehrere meter übers gestein nach oben steigen.
wie entsteht ein gedicht? ich weiß nicht, was vorher kam und was später. die tage kristallisieren zu einem ganzen. meine eltern kamen von einer persienreise zurück, im gepäck eine von einem straßenhändler erstandene cd. als ich die ersten sekunden eines der stücke hörte, fügte sich alles im kopf zusammen. die sufis. Mars. mein besuch des Burning Man Festivals in der wüste von Arizona, im jahr 2008. die Dream Machine, mit der ich einige monate zuvor mit freunden experimentiert hatte: eine von Brion Gysin erfundene lichtmaschine, eine droge ohne drogen, die auf praktiken nordafrikanischer mystiker basiert. Jesaja, der ruft
die wüste und das trockene land sollen sich freuen
die steppe soll jubeln und blühen.
Edward Abbeys lobgesang auf die wüste. „I sometimes choose to think, no doubt perversely, that man is a dream, thought an illusion, and only rock is real. Rock and sun.“ Desert Solitaire. organisches und anorganisches. das Mars-One-projekt, technokratische visionen des exodus.
aber noch entstand kein gedicht. ich sampelte den anfang des musikstücks zu einem loop. bearbeitete ihn, zerfetzte ihn, setzte beats darunter. hörte das stück immer wieder. und nun kamen die worte. ich sprach sie in ein aufnahmegerät, zum rythmus der musik. ich tippte sie, druckte sie aus, trug sie tagelang mit mir herum, strich, ergänzte, ersetzte wörter. ich sprach sie immer wieder zu mir selbst, und immer wieder zur musik. schließlich nahm ich das gedicht auf.
das land ist glatt und flach
ein weites tanzparkettaus unbelebtm mineral
dein körper ragt empor
und fängt den stromschlag der blitze
wedl mit der hand vor den augn
und blinzl in die sonne
lass den lichtstaub in dein hirn hinein
und lass ihn tanzn im hirn
das land ist glatt und flach
und wir tanzn am unbelebtn mineral
unsre körper ragn empor
und fangen den stromschlag der blitze
ein wortklanggebilde war enstanden, sprachmusik. ich stellte die aufnahme ins Internet.
einige monate später bereitete ich mich auf einen auftritt in Helsinki vor. ich brauchte visuals, aber wie sollte ich das gedicht bebildern? nächtelang durchforstete ich Youtube nach all den assoziationen, die ich bei der entstehung des textes gehabt hatte. lud video um video hinunter. schließlich montierte ich das gesammelte material zum rhythmus der sprachmusik. seither bilden text, musik und bild für mich eine einheit, ein audiovisuelles gedicht.
bei einer performance in der zentralfinnischen stadt Jyväskylä saß ein junger Italiener im publikum. er war weder der Deutschen noch der Finnischen sprache mächtig und hatte weder meine worte noch die Finnische übersetzung verstanden. nach der performance stellte er fragen, die sich überraschend genau im bedeutungsraum des gedichts bewegten. wortlos hatten die visuals zu ihm gesprochen.
Oravin im Internet: oravin.tumblr.com