Lyrik im Livemodus / Anja Utler: Sprache = Dichtung = Performanz?

In Lyrik im Livemodus by Robert Prosser2 Comments

Sprache = Dichtung = Performanz? Oder: Was heißt hier ‚a‘?

von Anja Utler

(als Impulsreferat am 28.09.2013 bei babelsprech in Lana vorgetragen)

Als mir Robert Prosser das Motto geschickt hat, unter dem Ihr Treffen an diesem Vormittag steht, eben: Sprache = Dichtung = Performanz, Fragezeichen, war mir die Vorstellung neu, dass man zwischen Sprache und Dichtung ein Gleichheitszeichen setzen könnte. Wenigstens habe ich diese Idee da zum ersten Mal ernsthaft betrachtet: dass vielleicht das Sprechen immer auch ins Dichten, ins Gedicht-Sprechen münden wird. Und es ist für mich ein anziehender, sogar trösticher Gedanke, dass es womöglich so sonderbar gar nicht ist, diese ’sonderbare Rede‘ (strannaja reč‚) anzustimmen, wie der russische Theoretiker Jurij Levin Gedichte nennt – wenn doch diese sonderbare Rede sich beinahe zwangsläufig einstellt, sobald man nur wirklich versucht, das Sagbare zu sagen (wie Helmut Heißenbüttel vorschlägt).

Sprache = Dichtung ist ein ermutigender Gedanke, der auch über eine gewisse Größe verfügt. Möge er wie ein optimistischer Oberton über meinem Vortrag stehen – denn dieser Vortrag wird im Vergleich dazu etwas kleinteiliger und trägt den Untertitel „Oder: Was heißt hier ‚a‘?“ Ich werde also vor allem über die zweite Gleichung sprechen, Dichtung = Performanz, Punkt. Denn diese Übereinstimmung möchte ich hier emphatisch behaupten und versuchen, in Grund und inneren Aufbau dieses Behauptungsmassivs etwas Transparenz zu bringen.

Ja, also: ich halte das Dichten für einen performativen Akt. Für Poesie, wie sie vom griechischen Verb poieĩn herkommt, das auch ‚machen‘, ‚verfertigen‘ bedeutete. Und ich denke dabei weniger daran, dass Poesie etwas Gemachtes ist (was sollte sie sonst sein), sondern daran, dass sie selber etwas macht. Dass sie ein Ereignis ist, das Wirklichkeit erzeugt. Nicht nur, aber vielleicht bevorzugt im Medium der Performance, was in diesem Zusammenhang überhaupt nichts anderes heißen muss als Aussprechen, Vorlesen, Aufsagen: Einige kommen zusammen, eine oder einer sagt etwas, ihre Rede ist eigenartig und rüttelt ein wenig, flüchtig entstehen Welten, von denen Bruchstücke in den Kopf des einen, der anderen einfallen und sich dort festkrallen, es hört auf und man geht auseinander, und das wäre es schon.

Derartige, vergleichsweise unspektakuläre Aktionen sind nicht immer gut angesehen. Auch von denen, die an ihnen teilnehmen. Man beklagt wahlweise eine Eventisierung oder verstaubte Drögheit der Wasserglaslesung – nicht selten bei derselben Veranstaltung. Und man raunt sich zu, das Gehörte funktioniere wohl vor allem gesprochen, ja hänge von der Performance geradezu ab – und das ist, so scheint es, nichts Gutes. Man vermutet offenbar, dass etwas, das sich hören lassen kann, als Schrift ohne Belang sein wird – zu Unrecht allerdings. Denn was auf dem Papier dünn ist, so zumindest meine Erfahrung, dem hört man auch auf der Bühne an, wie Stimmplüsch in es reingefüttert wird, und was als Gehörtes substanziell wirkt, zerfällt nicht beim Kontakt mit dem Papier; wenngleich es womöglich ein wenig mehr performative Eigenständigkeit seitens der Lesenden fordert, als der Konsum andersgearteter Schriften.

Jedenfalls halte ich es für erklärungsbedürftig, dass ich das Gegenteil – ach, das funktioniert ja nur geschrieben – als Vorwurf noch nie angetroffen habe. Ich konnte beim Hören ja gar nicht allem folgen! ist dagegen ein Standardausruf – ganz so als sei es möglich, im Gedruckten allem zu folgen, nur weil man den Text in einem Buch in der Hand hält, und ein Buch, das bleibt ja bekanntlich. So flüchtig, schnell, so folgenlos die Lesungen, so geht die Klage – nur bin ich mir nicht sicher, ob man ihr Glauben schenken darf. Denn nach Sprachwissenschaftlern wie Roman Jakobson1 existiert ohnehin wenig vollständige, nicht-elliptische Wahrnehmung von Sprache, und könnten wir damit nicht umgehen, müsste jede Äußerung, jedes Gespräch ebenfalls folgenlos bleiben. Vielleicht also geht es um etwas ganz anderes, z.B. um Autorität: denn die Aufführung ist etwas zutiefst Lokales, an Ort und Personen Gebundenes, das sich gerade jetzt erst2 vollzieht; sie kann also nicht schon vor-ausgestattet sein mit der Autorität eines größeren, Objektivität behauptenden Systems aus Schrieb und Meta-Schrieb, das mir sagt, wasdas dennist3, was ich vor mir habe. Mit der Aufführung bin ich vor allem allein, unabgesichert, face to face oder besser: ear to face. Und wer weiß, was mir widerfahren wird.

Denn womöglich geht es weniger darum, mit dem Buch etwas in der Hand zu haben, als es in der Hand zu haben. Das Buch, das bleibt – und zwar geschlossen, wenn ich es nur so will. Die Ohren aber schließen sich nicht, sie haben ja, so das berühmte Bild, kein Lid. Das Hören ist ein nervöser Sinn, dort am aktivsten, wo nicht mit dem Blick erfasst, nicht aus der Distanz erkannt, nicht ins Panorama geordnet werden kann. Vom Schall werde ich selbst erfasst, unversehens, er spielt nach seinen eigenen temporalen Regeln. Er trifft und warnt: ich, der Schallverursacher, könnte ebenfalls dich treffen, bald schon, dir näher sein als es dir lieb sein wird. Und wer weiß schon, was ich wirklich bin, was sein wird dann mit mir, bei dir. So etwas löst Fluchtreflexe aus. Bloß die Ausgesetztheit zu beenden.

Ich möchte also unterstellen: Nicht, dass nichts bleibt vom in die Luft Gesprochenen, ist der eigentliche Vorbehalt gegenüber der Performance. Sondern es rumort der Verdacht, dass aus dem Schall – in unserem Fall: der Kollision der sonderbaren Rede des Gedichts mit dem nervösen Gewirr, das hinter den eigenen Trommelfellen liegt – etwas entstehen könnte. Etwas Ungeahntes, Unabgesegnetes, das, ehe man sich recht versieht, passiert ist – und schon geht man als eine andere raus, als man gekommen ist. Und es ist klar: nicht in jedem Fall muss das Resultat so glanzvoll sein wie in einer unserer frühen Geschichten, als einer sprach: es werde Licht, und siehe da!

In den allerseltensten Fällen aber, wäre zur Beruhigung zu ergänzen, wird das Resultat auch so umfassend sein, wie bei jenem Ereignis. Und die meisten performativen Sprechakte zeitigen auch eher vorhersehbare Ergebnisse. Ich möchte kurz an den legendären Aufsatz von John L. Austin aus dem Jahr 1962 erinnern: How to Do Things with Words. Was Austin dort als performative Sprechakte beschrieb, waren Äußerungen, die nicht Beschreibung einer Wirklichkeit sind, sondern selbst eine Wirklichkeit erzeugen – eine soziale Wirklichkeit. „Ich taufe dich auf den Namen …“, „Hiermit erkläre ich euch zu Mann und Frau“, „ich verspreche dir, dass…“. Das kann dann nicht wahr sein, oder falsch, so etwas kann nur gelingen, oder eben nicht. Wenn z.B. nicht die richtigen Formeln gesagt wurden oder die beteiligten Personen irgendwie nicht richtig waren. Aber wenn es gelingt, hat es soziale Gültigkeit.

Die Unterschiede zu einem lyrischen Sprechen sind augenfällig. Und dennoch ist ein wichtiges Element gleich: der lyrische Sprechakt erzeugt ebenfalls eine Welt. Sie ist auf andere Weise sozial, als bei einem alltäglichen performativen Sprechakt, und sie wird gerade nicht durch konventionalisierte sprachliche Formeln erzeugt – wenngleich sehr wohl erwartet wird, dass der lyrischen Sprechakt ein spezifisches Verhältnis zu alltäglichen und literarischen Sprachkonventionen einnimmt. Trotzdem, es lässt sich nicht abstreiten: der konventionelle performative Sprechakt hat einen eingrenzbaren pragmatischen Zweck und seine Gelingensbedingungen sind klar – weil man sie festgelegt hat. Beim literarischen Sprechakt hingegen sind die Gelingensbedingungen nie genau bestimmbar, immer bezweifelbar, er ist ein zutiefst unpragmatisches, risikobehaftetes Unterfangen.

Denn wie sollte man Gelingensbedingungen festlegen, wenn schon die Grundvoraussetzung für den lyrischen Sprechakt, das gelingende Gedicht, nie objektiv identifizierbar wird. Tatsächlich: nie. Nämlich auch nicht in dem unwahrscheinlichen Fall, dass alle potenziellen HörerInnen sich nun meinen persönlichen Ansichten darüber anschlössen, was Gedichte sind und sein können. Nämlich Gebilde, die, ich wiederhole mich, eine Wirklichkeit erzeugen, von der nicht wichtig ist, ob sie mir gefällt oder behagt, sondern nur dass sie entsteht. Als eine Welt, die von den Welten der Prosa fundamental sich unterscheidet. Weil ich mich in ihr nicht einer Wirklichkeit von Figuren gegenüber sehe oder eine Wirklichkeit gemeinsam mit Figuren betrachte, die mich zur Spiegelung einladen. Die Lyrik stellt, oder gar: zwingt mich schlicht in ihre Welt hinein, und gibt sie, in all ihrer Fremdheit, als einemich angehende aus. Als eine, die der Rezeption Raum für eine Frage gibt, die Barbara Köhler in einem Gespräch aufgeworfen hat4: „Wo befinde ich mich?“ Und zwar ich in einer Art ichStrich. Denn das gelingende Gedicht hat, scheint mir, die Kraft zu einer sonderbaren physikalischen Operation: es redupliziert die Hörende und damit besetzen zwei Körper diese eine Position im Raum. Von den beiden springt die eine, IchStrich lässt sich einfangen und zeichnen vom Gesagten, vollzieht sich unter dessen Bedingungen vorbehaltlos nach; Ich räuspert sich ein wenig und hält ansonsten still, etwas im Abseits. Das Gedicht entfernt mich aus mir und lässt mich zugleich, und zwar über sich selbst, in mir ankommen. Denn mit dem Ende des Gedichts beginnt der Rückschmelzungsprozess der beiden Ichs am selben Fleck, wo unter wischender und schnippelnder und schnippischer Ach, wirklich?-Fragerei des einen sacht etwas anderes sich einzeichnet, hineinflüstert und zwischenfragt und singend seine Widerhaken anbringt.

Auch angenommen also, alle erklärten sich damit einverstanden, dass die sonderbare Rede des gelingenden Gedichts derartige physikalische Prozesse auslöst, ließe sich damit dennoch nicht das gelingende Gedicht vom nicht gelingenden unterscheiden, schlicht weil in den hörenden Individuen unterschiedliche Bedingungen herrschen.

Ich vermute aber, nicht nur weil es zweifelhaft ist, ob mein Gedichtsprechen überhaupt irgendwelche überblendeten IchStrichs und Ichs in den Raum setzen wird, ist dieses sonderbare Sprechen risikobehaftet. Dort wo die Sprechende wirklich spricht und keinen Sicherheitsabstand zum eigenen Sprechen einhält, ist das Risiko fundamentaler. Denn für sie wird mit dem Sprechen immer etwas geschehen sein, das sich nicht ungeschehen machen lässt. Es ist wie bei einer Liebeserklärung. Mit ihr verändert sich ebenfalls die Welt ohne Möglichkeit des Widerrufs. Man mag nun bestreiten, dass jeder Text in seinem Kern und irgendwo eine Liebeserklärung an etwas ist, das außerhalb seiner selbst liegt. Und man mag – und das zurecht – darauf hinweisen, dass die Dichterin in ihrem Sprechen weder dem eigenen Text die Liebe erklärt, noch, und das schon gar nicht, dem Publikum. Aber wenn ich eigene Gedichte spreche, zeige ich an mir das Verlangen, genau das genau so zu sagen. Nicht primär den Hörenden, sondern zuallererst mir selbst dieses sonderbare Sagbare, das sonst so nicht gesagt wird, herzusagen5. Und wenn dies an mir nicht wahrnehmbar geworden ist, ein Verlangen so groß, dass es alle Angst und die Geborgenheit des Schweigens überwinden kann, habe ich als Sprechende – als Performende – versagt.

Aber gerade dann, so wenigstens meine Beobachtung, wenn diese Verletzbarkeit, die jedes Verlangen auch bedeutet, im Sprechen besonders klar hervortritt, wird die Performance mitunter durch Teile des Publikums zum Kollabieren gebracht. Der Reflex, demjenigen die Kehle durchzubeißen, der diese offen zeigt, ist bei manchen wohl nicht gut bezwingbar; ins Feld der Lautgebärden übertragen: stören, rufen, unterbrechen. Solches Bluthund-Verhalten wäre keiner Erwähnung wert, würden sich in ihm nicht zwei grundlegende Missverständnisse der Performance manifestieren. Zum einen geht die Attacke davon aus, der Sprechende zeige sich ungeschützt und sei deshalb an Ort und Stelle vernichtbar. Verlangen und Verletzbarkeit zeigt der Sprechende aber lediglich an sich – wir sind immer noch im Raum der Kunst, und sitzen nicht auf der blühenden Wiese einer tatsächlichen Liebeserklärung. Zum anderen aber haben diese Menschen die grundlegenden sozialen Voraussetzungen der Performance nicht begriffen. Wie der Philosoph und Medientheoretiker Dieter Mersch ausführt, geht von der menschlichen Stimme ein ethischer Appell aus6: in der Stimme spricht sich ein Mensch nicht nur gedanklich und körperlich unverwechselbar aus; in ihr verkörpert sich auch seine zeitliche und räumliche Begrenztheit – sie und er können in jedem Moment untergehen. Gerade im Vorführen dieser Gefährdung entfaltet sich ihre Forderung nach Respekt: Lass es mich jetzt und hier sagen, solange es noch geht! Wer sich einer menschlichen Stimme gegenübersieht, hat, vulgo, eine Beißhemmung – so kann Kommunikation erst zustande kommen. Und sie ist vielleicht ein Grund, warum die Zerstörung einer Performance durch Teile des Publikums trotz allem ein seltenes Ereignis bleibt und, wenn sie auftritt, von den anderen Anwesenden kaum gutgeheißen wird. Weil der Gedichtperformer kein Schauspieler ist, keinen Dritten verkörpert, sondern seine Wörter an sich zeigt, gilt für ihn das Privileg des sprechenden Individuums. Ihn zu stoppen hieße, auf die Liebeserklärung übertragen: nicht nur die Liebe nicht zu erwidern, sondern dem Erklärenden das Recht abzusprechen, so etwas überhaupt zu sagen. Der krakeelende Wunsch, das Gesagte hier und jetzt instantan aus dem Kanon und an einen Ort außerhalb des Hörbaren zu verweisen, hat hier zurück zu stehen. Als sozialer Akt vollzieht sich die Gedicht-Performance zunächst nicht als Zuweisung gesellschaftlicher Autorität oder Rolle, sondern nur als Verhandlung zwischen mir und mirStrich angesichts erhörter und unerhörter fremder Worte. Schon das betrifft meine soziale Person. Aber diese eigene Interaktion mit dem Gedicht angesichts der anderen, sprechenden Stimme und neben anderen, bereitet auch dem anschließenden intersubjektiven Abgleich, dem Fortspinnen mit anderen Hörenden, die privilegierte Bühne.

So in etwa versuche ich mir Antworten zu entwerfen auf die Frage, die beim Thema Gedicht und Lesung bzw. Performance immer unausgesprochen mitschwingt: Ist das Hören eines Gedichts wirklich etwas Anderes, und wie manche meinen sogar Besseres, als dieses still für sich zu lesen? Ich meine, für Hörende sind schlicht die Verhältnisse zwischen Gebundenheit und Freiheit andere. Die Stimme des anderen sagt Hör mich an! und bindet mich so – wie im Alltag – an sich und an das, was sie sagt. Sie bindet mich – über das Hören als Zeitsinn – hinein ihre Zeit, sie übernimmt für mich die Taktung. Ich darf ihr folgen. Ich bin nicht frei, die Pausen so zu setzen wie ich will, Aufschub wird nicht gewährt – will ich dabei sein, muss ich ihr folgen. Und kann es nicht. Nicht komplett in jedem Fall – nur liegt genau darin kein Mangel, sondern die produktive Kraft auch des Geschehens. Ich hänge nach, hier und da, so wird in meinem eigenen Muster die Stimme perforiert, punktiert – ich erhalte Einlass, ich darf als ichStrich zuinnerst dabei sein. Mit mir mich in Beziehung setzen zu ihrem Lauf und ihren Sprüngen, ihren Untiefen und Überschlägen, ihrem Funkeln, Überschwang, und ihrem Elend. Was heißt es, so zu sprechen, für sie, für mich – für uns vielleicht? Wir bandeln an, denke ich; und dann zieht sie sich endgültig zurück, in ihre Uneinholbarkeit, verstummt. Ich bemerke, dass zwar sie mich berührt hat, aber nicht ich sie – und so musste es sein. Ich finde mich also allein wie ich es immer war, aber mit ergänzter Ausstattung.

Nur fragt sich weiterhin: geschieht nicht etwas ganz Ähnliches, wenn ich ein Gedicht still für mich lese? Wird nicht auch dort die eigene Ausstattung ergänzt? Durchaus; aber eben auf anderem Weg; denn wenn man rein vom Ergebnis her denkt, könnte es, wenn man eine ganz andere Sphäre aufruft, z.B. auch dasselbe sein, sich in der Bäckerei nebenan ein Stück Schwarzbeerkuchen zu kaufen, wie in den Wald zu gehen, Schwarzbeeren zu pflücken, zu Hause einen Hefeteig anzusetzen und zu backen – nur weil der Nährwert vielleicht der gleiche ist. Und selbst das ist zweifelhaft. Die Erfahrungen und Prozesse aber sind in jedem Fall andere, und für das gesprochene Gedicht gilt eben auch: es erzeugt neben der gedanklichen Realität auch eine körperliche. Die aber muss – so tautologisch es ist – sich verkörpern, um wirklich zu werden.

In diesem Zusammenhang wird dann gerne angeführt, dass das geschriebene Gedicht nur eine Art Partitur sei – die für das Gedicht typische lautlich-rhythmische Gestaltung müsse man eben hören. Dagegen ließe sich einwenden, dass die meisten Menschen auch beim stillen Lesen den Klang über ihre eigene Stimme im Kopf hören. Trotzdem scheint mir dieses musikalische Argument zulässig. Und ich glaube auch, dass der amerikanische Dichter Charles Bernstein recht hat, wenn er in der von ihm herausgegebenen Aufsatzsammlung Close Listening sagt, dass der Gedichtvortrag die Sprache rematerialisiere, sie zurückführe „from ’speech‘ back to ’sound‘; or rather, the poetic mode synthesizes the speech mode of perception and the nonspeech mode of perception.“7 Die lautliche Überstrukturierung der dichterischen Sprache vermag also deren materielle Beschaffenheit wieder hörbar zu machen – man nimmt bewusster wahr, wie sie klingen, die deutschen Laute, z.B. ‚a‚. Aber tut das Aussprechen des Gedichts dann nichts anderes, als ein wenig das Sprachbewusstsein zu massieren und musikalische Girlanden um den lexikalischen Kern eines Texts zu winden? Zweifellos existieren solche Poetiken, aber sie sind meines Erachtens diejenigen, die nun auf eine lautliche Realisierung am ehesten verzichten können – denn ein bisschen musikalisches Pling-pling kriegt man tatsächlich noch im eigenen Kopf hin.

Wenn also ‚a‚ und seine sorgfältig gruppierten Nachbarn nicht einfach nur gut oder grauslich klingen angeblich in einem Gedicht, was bedeuten sie dann? Es ist klar, dass die Lautgestalt von ‚Schwarzbeerkuchen‘ in keinem inneren Zusammenhang mit der Bedeutung des Wortes steht. Das ‚a‘ in schwarz steuert zur Bedeutung ’schwarz‘ nichts bei, es könnte genausogut ’schworz‘ heißen, und in meinem Dialekt tut es das auch. ‚a‘ hat nichts Dunkles wie die Nacht in sich – sonst wäre der Tag auch ziemlich finster – und finster ist wiederum trotz des hellen ‚i‚ verdammt dunkel. Trotzdem – und das Antippen des Dialekts verweist bereits darauf – sind Laute in einer Sprache selbstverständlich emotional aufgeladen. Die Sprecher einer Sprache kennen schöne und unschöne, gute und schlechte Laute. Das Grimm’sche Wörterbuch z.B. beginnt mit der Vorstellung des ‚a‘ und dieses ‚a‘ ist für die Grimms „der edelste, ursprünglichste aller laute, aus brust und kehle voll erschallend, den das kind zuerst und am leichtesten hervor bringen lernt, den mit recht die alphabete der meisten sprachen an ihre spitze stellen.“ Und es klingt auch bereits das Drama um das ‚a‘ an: „Alle unsere a haften fast nur in den wurzeln, die der flexion und ableitung waren schon mhd. zu unbetontem e herabgesunken“. Und über eben dieses ‚e‘ ergießt sich an entsprechender Stelle eine Suada: „ein unursprünglicher, darum auch schwankender, unbestimmter vocal, der in unsrer sprache allzusehr um sich gegriffen und ihren wollaut beeinträchtigt hat.“ Dabei war es doch noch im Gotischen so, dass „sechs, zehn, zwölf silben hintereinander das reine, kräftige a zeigen“, jetzt hingegen „häufen“ wir das schlechte ‚e‘, unmittelbar bevor steht also der Niedergang des Abendlands zu einem elenden Ebendlend, das kollektiv zu faul ist, den Mund ordentlich und kräftig aufzumachen.

Aber auch unabhängig von solchen emotionalen Wahrnehmungsmoden scheint mir klar und unbestreitbar, was Charles Bernstein sagt: „To imagine that a meaning might be the same despite a change of words is something like imagining that I’d still be me in a new body.“8 Sich vorzustellen, die Krähe hieße Zilpzalp grenzt ans Absurde. Aber was für eine charmante Veränderung ginge mit dem Computer vor sich, sagten wir ihm von nun an Zilpzalp. Charles Bernstein allerdings hat weniger das Verhältnis zu den bezeichneten Entitäten im Blick, sondern vor allem das Bedeutungsgeflecht innersprachlicher Bezüge. So führt er aus, dass ‚a rose‘ keine ‚rose‘ mehr wäre, würde sie denn anders heißen und sich nicht auf mehr auf ‚doze‘, ’shows‘, ‚clothes‘, ‚pose‘, ‚glows‘ reimen. Ihr Gravitationsfeld, ihr Gewicht, ihre Lagerung in der Sprache wären schlicht andere. Und auch auf kleinerer Ebene, in der dämmrigen Zone zwischen Grammatik und Bedeutung gilt, dass Laute wechselwirken, sich wie Perlen auf einer Schnur reihen und zu kleinen Clustern verschmelzen können, die bestimmte Bedeutungstendenzen oder -richtungen anziehen und um sich scharen. Der Zilpzalp ist ja nicht allein, er hat den Flic-Flac, vor-zurück, das klick-klack, kleine Töne, ein wenig monoton der Singsang, tick-tack, i-a, hin und her und her und hin, bis sie ins unüberschaubare Wirrwarr sich verabschieden.

Oder werfen wir einen Blick auf den Berg9 der an sich vielleicht eher der Konsonantenhaufen b-rg ist und den die Vokale in seinem Inneren in unterschiedliche Zustände versetzen. Er birgt, und barg, und wer geborgen ist, befindet sich womöglich im Inneren einer Trutzburg. ‚a‚ ist hier: es war einmal und ist vielleicht schon gar nicht mehr, ‚o‚ hingegen ein rundes, vorläufig unwiderrufenes Resultat. Als muttersprachliche SprecherInnen des Deutschen wissen wir das – und es sind solche Muster, die auch dort eine innere Verknüpfung suggerieren, wo es keine gibt, etwa zwischen Formen wie wollen, Wille und wallte, die auch deshalb, wenn richtig kontextualisiert, die Kurve Richtung Komik kriegen können.

Oder sehen wir uns anlautende Lautpaare an. Etwa das ‚kn-‚ in Knauf, Knoten, Knebel, Knäuel, Knolle, knüllen – es scheint hier auf etwas Festes, Rundes zu deuten; in anderen Verben wiederum kommt es mit kleinen, aufgerauten Geräuschen daher, wie in knistern, knarzen, knirschen. Oder das ‚fl-‚ in Flamme, flimmern, flattern, flackern, Flügel,vielleicht auch fließen – es scheint hier um eine Bewegung zu gehen, in vielen Fällen um eine kleine Bewegung hin und her oder auf und ab. Und dass diese – nach Jakobson und Waugh so genannten – submorphematischen Einheiten10 und ihre Bedeutungsladung die Sprache nicht zu 100% durchdringen scheint mir hier weniger ein Problem denn poetisches Potential – etwa die unruhige Beweglichkeit des fl- auch per se entfernteren Wörtern einzuflößen, so dass sie das Gedicht durchzieht. Nicht als abgrenzbare konzeptuelle Vorstellung. Als Tönung. Als Strömung.

Mir scheint, man muss Gedichte hören, um dieses in den SprecherInnen nur latent vorhandene Wissen in dieser Weise anzuregen. Vielleicht, weil wir diese Arten von Bedeutung ja auch über das Hören und Aussprechen kennen gelernt und gelernt haben. Im Gesprochenen zeigt sich der Körper der Sprache schimmernd und wird berührbar, in seinen dicken Schichtungen und Fadenscheinigkeiten, seinen instabilen Windungen und Gewichten. Oder, wie Charles Bernstein anders akzentuiert formuliert: „The meaning is not something that accompanies the words but is performed by them. […] When sound ceases to follow sense, when, that is, it makes sense of sound, then we touch on the matter of language.“11

Und im Sprechen berührt die Sprache im Gegenzug auch unsere Körper, durchquert sie, formt sie. Laute sind schlicht körperliche Ereignisse. Sie produzieren in Mund und Hals Engstellen und kleine Explosionen, Reibungen und Anstöße, Offenheit und Verschlüsse, Spannungen und Weichheit. Sie kommen als Ereignisse mit einer spezifischen Geräusch- oder Klangsignatur, mit Heftigkeit und Dauer. Sie kommen als solche, die auch die Schrift kennt, und solche, die sich ihr verweigern. Die Kombinations- und Reihungsmöglichkeiten nach physischen und physikalischen Eigenschaften sind schier unendlich; die Verknüpfungsmöglichkeiten mit allen anderen Bedeutungsebenen des Gedichts ebenfalls. Sie geben dem gesprochenen Gedicht eine körperliche Gestalt mit einer spezifischen zeitlichen Binnenstruktur, mit einer je eigenen Komposition aus Öffnungsgraden und Nachdruck. Und das wichtigste für die Performance: die Laute lassen sich nicht auf den Körper eingrenzen, der sie hervorbringt. Sie springen über. Sobald wir jemandem auf der Bühne zuhören, rutschen unsere Sprechorgane unwillkürlich in ähnliche Positionen wie diejenigen des Sprechers oder der Sprecherin. Der körperliche Verlauf ihres Sprechens bildet sich in uns nach, eine Art stille Synchronisation findet statt – und Vergleichbares gilt auch für rhythmische Phänomene. Das gesprochene Gedicht erhält so eine Art ausgreifender taktiler Bestimmtheit. Es greift nach den Feineinstellungen meines Körpers und tuned sie auf sich.

Laute sind also emotional aufgeladen, sie bilden ein feines innersprachliches Bedeutungsgespinst, sie formen, ob sprachlich oder nicht-sprachlich, ansteckende körperliche Realitäten. Sie verbinden sich zu unterschiedlichen, sehr feinen Netzen, die über die lexikalischen Bedeutungen des Gedichts geworfen werden, über seine Emotionalität und Bildlichkeit, seine gedanklichen Schärfen und Unschärfen. Sie überziehen diese, schnüren sie stellenweise ab und lassen sie zappeln, holen sie andernorts an die Oberfläche und flößen ihnen Luft ein. Es bildet sich aus all diesen Schichten ein Ganzes, aber eines, das innerlich vielfältig, unruhig und beweglich bleibt. Die Schichten verklumpen nicht zu einem monolithischen Block, wie zu einem Brocken Eisen oder Stein. Sie streben auseinander und zusammen, zwischen ihnen bleiben Räume, bilden sich Überschüsse und Leerstellen. Denn die unterschiedlichen Bedeutungssysteme sind nicht so aufeinander einstellbar, dass sie alle exakt das Gleiche sagen und tun – sie vergessen nicht sich selbst und ihre eigene Genese im und zugunsten des Gedichts. Und selbst wenn das ein schöner Traum ist, den ich immer wieder träume: ein Gedicht wie ein indexikalisches Zeichen zu haben, ein Gedicht, das alle möglichen und unmöglichen Bedeutungsschichten so interagieren lässt, dass sie die Klarheit und Einsinnigkeit haben wie der Rauch eines Feuers. So muss ich doch zugestehen: vielleicht ist es ja ohnehin aufregender, hören zu können, wie all diese interferierenden Bedeutungssysteme nie in eins fallen und trotzdem nicht getrennt werden können. Und wie die Stimme auf der Bühne sie souverän zusammenfasst. Wie diese Stimme dieses Gezappel einfängt und austrägt in sich, so dass es weder ausbrechen kann noch erlischt.

Ich als Hörende darf es hören, wie in der Stimme an einem Ort zusammenkommt, was wie überlagernde Körper sich drängt an einem Fleck, den es doch selbst so erst hervorbringt. Darf z.B. eine exakt durchdachte Irrationalität hören, wie Bilder im Staccato aufspringen und von gedehnten Lauten umkleistert werden, wie etwas flüstert, hustet, als sei es gar nicht nur der Körper, wie es ploppt war das das Mikrofon, kann hören wie Logiken wuchern und eine raue Emotion sich aus einer Pause treibt, die wohl der Hals mal wollte und merken: so wie sich das hier abspielt jetzt, genau so ist es richtig. So muss es sein –

Nur was genau das ist – das kann ich dabei nicht festlegen, in einem Satz oder einem Wort. Und das wäre sie vielleicht, die Freiheit der Performance: dass sie von jedem Versuch, sie in einem Wort oder Satz einzufassen, unberührt bleibt. Und das Befreiende: Weil das Aussprechen innerlich so multipliziert ist, dass eine eindeutige Bestimmung, Beurteilung, Einordnung im Metatext unmöglich ist, wird in solchem Sprechen die Sprache einmal nicht das Narkotikum, das Michel Serres in ihr erkennt, das An-Ästhetische, das über enge Floskeln von Sinnen und Gegebenem abschneidet12. Und wird deshalb etwas, das ich derart innerlich aufgeraut auch mit nach Hause nehmen muss, als ein Ganzes in bewahrten Bruchstücken, das unverdrossen weiter zappelt mir im Kopf. Als gerate ein Schwarm Plankton in die Badewanne. Und ließe sich nicht mehr verscheuchen.

1 Vgl. Roman Jakobson. On Language. Hg. v. Linda Waugh u. Monique Monville-Burston. Cambridge, 1995. S. 172.

2 Zum Hic et Nunc der Performance und zur spezifischen Bedeutungsbildung performativer Ereignisse generell vgl. Erika Fischer-Lichte. Ästhetik des Performativen. Frankfurt a.M., 2004.

3 „Handlungen vollziehen sich, ohne dass schon vorentschieden ist, was jeweils mit ihnen gesetzt wird“, sagt hierzu Dieter Mersch in Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen. Frankfurt a.M., 2002. S. 246.

4 Das Gespräch mit Barbara Köhler wurde aufgezeichnet anlässlich ihrer Lesung an der Universität Regensburg am 12.07.2013.

5 Max Czollek verwies in der Diskussion nach dem Vortrag zurecht darauf, dass hier der Eindruck entstehen könne, das Gedicht-Sprechen werde als solipsistische Rede entworfen, in der kein angesprochenes ‚Du‘ auszumachen sei. Mein Text ist hier offensichtlich nicht klar genug. Denn tatsächlich meine ich, dass schon Risiko und Ausgesetztheit, wie sie jedes Gedicht-Sprechen bedeutet, die Hörenden als Gestaltende in den Prozess einschreiben. Wichtiger aber noch scheint mir, dass Raum für die RezipientInnen im Gedicht selbst geschaffen werden muss – bereits der Text bringt ihn hervor, nicht erst seine wie auch immer geartete Aufführung. Mehr noch, m.E. liegt der Grund für das unrettbare Scheitern von Gedichten oft genau im Fehlen der Rezipienten-Spur: in der Selbstgenügsamkeit (oder: Selbstverliebtheit) eines Texts, der sich als unabhängig von jeder Rezeption entwirft und so jede Realisierungsmöglichkeit – und damit sich selbst – annulliert.

6 Vgl. hierzu: Dieter Mersch. „Präsenz und Ethizität der Stimme.“ In: Doris Kolesch, Sybille Krämer (Hg.). Stimme. Annäherung an ein Phänomen.Frankfurt a.M., 2006. S. 211-236.

7 Charles Bernstein. „Introduction.“ In: Close Listening. Poetry and the Performed Word. New York, 1998. S. 3-26, hier S. 18.

8 Bernstein, 1998, S. 17.

9 Zum Berg, wie dem Bergen und Her-Bergen s. auch Barbara Köhler. 36 Ansichten des Berges Gorwetsch. Betrachtungen. Zürich, 2013.

10 Vgl. Roman Jakobson u. Linda Waugh (1979). „The Sound Shape of Language.“ S.188f. Zu „submorphematischen Einheiten“ s. auch Cornelia Zelinski-Wibbelt. Die semantische Belastung von submorphematischen Einheiten im Englischen. Frankfurt, 1983, oder Ellen Fricke. Grammatik multimodal: Wie Wörter und Gesten zusammenwirken. Berlin, 2012.

11 Bernstein, 1998, S. 21.

12 Vgl. Michel Serres. Die fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und Gemische. Frankfurt a.M., 1998.

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  1. Zur Sekundärliteratur: Dies bestätigt auch das Buch SCHWAIGEN & NICHTSZ – Die unerhörte Wende
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    Autor:
    Manfred H. Freude
    Kategorie:
    Nachschlagewerke, Sprache & Bildung → Sprachen
    Preis:
    69,85 €
    Hardcover | Wissenschaft | 480 Seiten s/w | ISBN: 9783844216622
    Deutsch | Altersempfehlung: ab 18 Jahren | Erscheinungsdatum: 15.02.2012
    Schlagworte:
    Philosophie, Geisteswissenschaft, Sprachphilosophie, Germanistik,

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