Die Diskussion zur Politik der Lyrik ist in Deutschland zwischen Gemeinplätzen und Nischen weitgehend stillgelegt. Debatte, Begriffsbildung und Intervention finden in anderen Ländern, anderen Disziplinen oder der Vergangenheit statt. Zwar werden die Begriffe oft im selben Atemzug genannt, aber das geschieht meist floskelnd oder in Form eines reflexhaften Lamentierens über die Entpolitisierung der Literatur und der sie schreibenden nachwachsenden Generation. Den Beschwerden entspricht meist ein ebenso entschiedener Unwille, am kritisierten Zustand irgendetwas zu ändern oder ernsthaft über die Frage nachzudenken, was eine Politik der Lyrik heute sein kann.
Statt also die Möglichkeiten und Bedingungen politisch-lyrischer Artikulation in den Blick zu nehmen und den institutionellen und ideologischen Rahmen der Zähmung, Zerstreuung, Verunsicherung, Individualisierung und Verspießerung zu kritisieren, zementieren die Kommentator_innen diesen, wenn sie ein als „Generation“ angerufenes fiktives Kollektiv zu „Mut“ auffordern und damit die Lage sowohl personalisieren als auch jeglicher sozialen Bestimmung berauben. Die Fähigkeit zur Analyse und formalen Bewältigung der politischen Zustände fällt nicht vom Himmel, sondern ist auf öffentliche Debatten angewiesen, in denen Begriffe und Formen geschärft sowie bereits entwickelte Vorstöße gesichtet, popularisiert und kritisiert werden. Eben dies zu organisieren verpasst und verhindert die selbstgefällige Generationen- und Zeitdiagnostik.
Dagegen gibt es, vor allem unter Lyriker_innen selbst, Ansätze und Bestrebungen, die Diskussion neu zu entfachen und in Form von Veranstaltungen, kollektiven Poetologien und Anthologien (Timber!, Helm aus Phlox, alles außer Tiernahrung), Artikeln (1, 2, 3), Blogs, Textreihen (ZEIT, Edition Poeticon) und Preisen zu führen. Allerdings existieren diese Ansätze verstreut und haben bisher weder politische Impulse noch einen umfassenderen Dialog oder Streit um ein politisches Vokabular für die Lyrik auslösen können.
Was tun?
Ohne allzu größenwahnsinnig zu werden, möchten wir hier genau diesen Dialog in Gang setzen, in dem die bestehenden und entstehenden Entwürfe sich aufeinander beziehen und voneinander lernen. Politik der Lyrik meint dabei etwas anderes als ‚Politik und Lyrik‘ oder ‚Lyrik und Gesellschaft‘, insofern es nicht darum geht, zwei in sich geschlossene Blöcke irgendwie aneinander zu schweißen. Wenn es eine Politik der Lyrik geben kann, dann gibt es sie auch jetzt schon: in Form jener politischen Phänomene, die sich lyrisch ausdrücken (lassen) und jenen Gesten, Bedingungen und Verästelungen der Lyrik, die politisierbar sind.
Es geht uns weder darum, Politik auf Texte zu reduzieren, noch Gedichten das Politische aufzuschwatzen. Bevor wir eine kritische oder soziale Agenda an die Poesie herantragen, sagen wir: Danke. Und fragen uns: was genau haben wir ihr zu verdanken? Stimme, Skepsis, Humor, Freude, Erkenntnis, Trost, Klarheit, Bombast, Prekariat, Elite, Utopie, morphologische Fühler…? Das lyrische Schreiben erscheint uns als Wagnis, Streifzug, Sensibilisierung, Befreiung und Aneignung, gepaart mit der Müdigkeit, die einen manchmal beschleicht, wenn man etwas tut, dessen Wirksamkeit unsicher ist. Ebenso könnte man Politisierung beschreiben.
Die Verknüpfungen liegen auf der Hand, mit denen sich eine Politik der Lyrik ihr Genitivpronomen verdienen kann: Neben Inhalt und Form der Gedichte sind es die Vorgänge ihrer Herstellung, ihrer Zirkulation und ihres Gebrauchs, in denen Kritik und Konformismus, Bewältigung, Strategien, Hierarchien und Machtfragen zuhause sein können. Was können wir lyrisch erschreiben? Was tut ein Gedicht? Wie greift es um sich? Wovon spricht es, worüber schweigt es? Was tut es uns an? Wen hör ich am anderen Ende? Welche lyrischen Formen entsprechen der Verdinglichung von Beziehungen, welche der Solidarität? Welche Form tut nur sozial? Unter welchen Bedingungen entsteht Lyrik und wie äußert sich das in den Texten? Ist Lyrik bürgerliche Hochkultur? Prekarisierte Kulturarbeit? Autonome Nische? Wie wollen wir lesen? Wie können wir über Literatur sprechen? (Wie) manifestiert sich der Kapitalismus in unserem Schreiben? Oder das Patriarchat? Wann war die letzte Demo mit Lyrik-Block?
Wie funktioniert der Blog?
Dieses Unternehmen kann natürlich nur ein kollektives sein, ein ‚Kommunismus des Schreibens‘. Der Blog setzt deshalb in erster Linie auf die möglichst breite Diskussion und sucht eine Vielfalt, die nicht isoliert im digitalen Dachkämmerl geistert, sondern sich zueinander in Beziehung setzt, reibt, klaut, abfeiert und kritisiert. Wir wollen möglichst viele Leute dazu bringen, politisch zu schreiben und politisch über Lyrik zu sprechen. Wir wollen über die Zeit einen Dialekt entwickeln, in dem wir kommunizieren und wirksam werden können. Dafür sind mindestens alle ausdrücklich zum mitmachen eingeladen.
Der Blog besteht aus drei Strängen:
1. Diskussion
Diese besteht aus kurzen Aufsätzen, Gedanken und Skizzen, um die Fetzen des schon entstandenen und ausgeleierten, oder des noch zu sammelnden Vokabulars der Politik der Lyrik zu verschränken und vernetzen.
2. Textsammlung
Parallel dazu halten wir es für sinnvoll, uns im Fundus des bereits Erarbeiteten zu bedienen, lose Fäden aufzunehmen, bestehende Ansätze zu sammeln und zu systematisieren. Deshalb werden auf dem Blog neben den Diskussionsbeiträgen regelmäßig ältere Texte zur Politik der Lyrik vorgestellt werden.
3. Gedichte & Schreibformen
Da es hier auch um Praxis geht, sammeln wir außerdem Gedichte und Texte, die uns politisch interessant vorkommen, oder einen potentiellen Weg aus den obengenannten Schleifen zeigen. Wir laden auch hier alle ein, uns exemplarische Texte zuzuschicken, womöglich bereits mit Überlegungen, was für politische Potenziale dabei aufgezeigt und erkennbar gemacht werden.
Um das nochmal zu betonen, alle – die sich irgendwo auf einer Skala von Kunst bis Leben (oder abseits von ihr) der Dichtung im weitesten Sinne nah fühlen – sind willkommen mitzumachen. Ebenso sind Beiträge aus allen Sprachen erwünscht (wenn es nicht Englisch ist, organisieren wir gemeinsam eine Übersetzung). Beiträge sollten sich im Idealfall auf einen schon bestehenden Text beziehen und eine Länge von maximal anderthalb bis zwei A4-Seiten haben.
Fragen, Ideen für Beiträge und Texteinsendungen an: hallopraesident@gmail.com.
Viele Grüße, Tschüss und Hallo Präsident,
Charlotte, Joel und Linus (die Moderator_innen)
Comments
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Politik der Lyrik:
Kann Lyrik politisch sein?
Das haben sie nicht gemeint.
Kann Politik lyrisch sein?
Nein. Aber
das haben sie nicht gemeint.
Was meinen sie dann?
Es geht ihnen um Meinungen.
Meinst du?
Bin mir nicht sicher, aber sieh mal:
Ein Gedicht funktioniert
wie eine geistige Beschleunigung:
alles, was du einwebst, hineinlegst
hat Potenzial zur Reflexion, zur Idee,
zur Brisanz.
Ach: dann schreiben ja alle Dichter politisch.
Na,
nicht so ganz.
Dichter dichten einfach
und die besten hat noch nie geschert,
wie man ihre Werke einordnen kann.
Dichtung ist erst einmal eine Möglichkeit
unverifiziert zu denken, zwischen
den eigentlichen Bedeutungen, andere
Bedeutungen zu finden. Milosz sagte schon:
Scheiß auf die Systeme! – Er sagte es jedoch
schöner, verquerer, beispielhafter, genauer
und das ist der Punkt.
Also hat Dichtung im Prinzip
immer einen politischen, bildenden Grund?
Nein; außer
du betrachtest das Wort politisch nicht
im Sinne eines Wörterbuches,
sondern im Sinne
seines Wörterbuches; also wie du es
einsetzten kannst, mit einer anderen Bestimmung,
auch ganz anders, hier und dort,
in einer neuen Verbindung.
Wisse: in einem Gedicht ist alles möglich, alles
streitbar – das
macht es zur politischen Zone.
Erinnere dich an den alten Benn, der sagte:
„Die Dichtung verbessert nicht, aber sie tut
etwas viel Entscheidenderes: sie verändert.“
Dichtung bessert also nicht?
Das ist Ansichtssache. Fakt ist,
dass das Potential ihrer Gedanken
grenzenlos ist, wenn auch nicht immer
ihrer Stimme – da ist die Kluft zur Politik
als solche.
Soso, aber-
Ganz genau: aber. In der Lyrik regiert das Aber,
der Zweifel,
aber sehr, sehr subtil. Du wirst gar nicht merken,
dass er da ist, du wirst ihn nur bemerken, ihn
annehmen. Erich Fried: Du kommst „zum Zweifel/
den keiner mir abnimmt/der ihn nicht annimmt.“
In der Lyrik geht es um die Erweiterungen. Um die
Multiplikation der Phänomene durch Sprache!
Sprache,
die nicht isst und frisst, sondern anbaut.
Was willst du mir hier eigentlich verkaufen???
Ich will dir nichts verkaufen. Die Lyrik verkauft nichts;
sie ist ja nicht mal sicher,
dass sie etwas hat. Diese Gewissheit,
hat erst der Leser. Und er hat sie nicht als Quittung,
sondern als Rechnung, als Zahlschein, als Mahnung.
Aha.
Sag nicht aha. Akzeptanz ist das größte Übel.
Was soll ich denn sonst sagen?
Keine Ahnung. Sag einfach gar nichts. Darüber
lässt sich nichts sagen. Versuch es vor allem
nicht aufzubauen zu etwas großem Ganzen.
Achte die Teile, den Streif, mehr als das Objekt.
Wieder Fried: „Wer zuerst/auf alles kommen will/
der kommt zuletzt/um alles.“
Ist Lyrik nun politisch?
Ihre Elemente können so ausgelegt werden.
Und Auslegung ist gut?
Nein, aber sie ist auch nicht schlecht. Sie gehört
dazu.
Also gehört alles dazu. – Nein,
nur das, was da ist.
Und in der Lyrik ist alles da. Jeder Punkt,
jede Wendung
jede Zeile
baut nicht auf Bedingungen,
sondern auf Momenten der Sprache, des Eindrucks,
des Universums.
Des Universums? – Ja, verstehe bitte
diese Metapher als Idee. Ich meine damit,
dass das Universum, die Politik, oder dein Hustenanfall
sich nicht insgesamt abbilden lassen. Aber in den Punkten,
den Teilen
ihrer Gebilde
kann sehr viel enthalten sein. Die Dichtung
bildet die Punkte ab, die Nerven
der Körper, die nicht abzubilden sind. Meist deutet sie lediglich
einen konkreten Raum an,
sodass man erkennt das irgendwo in der Mitte des Raums
ein Zentrum sein muss, über das
zu sprechen, den Raum darum vernachlässigen würde.
Aber man erahnt nun Raum und Zentrum zugleich.
Das ist alles jetzt sehr theoretisch, oder?
Das ist das Problem.
Das ist das Problem, mein Lieber.
Das ist die Politik der Lyrik.
Schreibe lieber Gedichte, mein Lieber.
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