Wie schon vielfältig angekündigt betritt dieser Blog am Samstag, den 1.3. zum ersten Mal analoge Welt und Rampenlicht. Als Diskutanten für die Auftaktdiskussion haben wir Enno Stahl und die Redaktion der Literaturzeitschrift randnummer gewinnen können, vertreten durch Philipp Günzel. Kurz vorab dokumentieren wir hier nun bereits die Thesen, entlang derer beide Seiten am Samstag ihre Positionen vorstellen werden. Es beginnt Enno Stahl:
Lyrik und Politik
von Enno Stahl
Lyrik kann und darf noch weniger als zeitgenössische Prosa Wirklichkeit eins zu eins abbilden. Auch ist eine direkte politische Sprache in der Lyrik heute schwierig, wenn auch nicht unmöglich. Zumeist muss Lyrik, um Lyrik zu sein, andere Wege gehen, den Weg hin zur „Fachsprache“, zum „Technolekt“. Lyrik muss verklausuliert sein, um nicht sofort weggegessen, verdaut und entsorgt zu werden, nichts isst sich so schnell wie ein unsperriges Gedicht („Hamburger-Lyrik“, Ulla Hahn usw.).
Verfremdungsprozesse also im Sinne Viktor Šklovskijs sind für Lyrik nahezu unabdingbar: »Ziel der Kunst ist es, ein Empfinden für die Dinge zu vermitteln, das sie uns sehen und nicht nur wiedererkennen läßt; ihre Verfahren sind die ›Verfremdung‹ der Dinge und die erschwerte Form, ein Verfahren, das die Wahrnehmung erschwert und verlängert. «
Eine solche Methodik ist für Lyrik überlebensnotwendig, obwohl ihr damit durchaus ein Moment der Verstellung eignet, „erborgte Schwierigkeit“. Gerade politisch gesehen ist das beides, Chance und Problem. Einerseits verhindert die poetische Verfremdung unbedachten Konsum, ist dadurch per se subversiv, weil sie heraustritt aus dem Bereich der „Zwangskommunikation“, dem ubiquitären „chiachiare“ … Wer nicht willfährig mitkommuniziert, und das heißt zugleich: seine Botschaft, also Ware, anbietet, verweigert sich intuitiv dem profitorientierten Austauschgeschäft der Menschen aka Marktteilnehmer.
Andererseits aber verschließt Lyrik sich so manchen möglichen Rezipienten, und wohl besonders solchen, die sie eigentlich erreichen sollte, um ihnen etwas zu verstehen zu geben. Denn es bedarf unleugbar eines großen Vorwissens (Kenntnis der Lyrikgeschichte wie der lyrischen Zeitgenossenschaft, Stichwort: „Intertextualität“), um komplexe zeitgenössische Gedichte zu begreifen (auch wenn das „Be-greifen“ von Gedichten eigentlich eher haptisch oder besser: habituell erfolgen sollte – dennoch: wo Rezipienten nur stehen wie der Ochs vorm Berg, bleibt die Wirkung gering). Lyrik wird dadurch „Fachsprache“ in einem ganz anderen Sinn, als In-Code einer distinkten Geschmackselite, welche Lyrik für ihre Absetzungsprozesse gebraucht.
Lyrik, die sowohl ästhetisch überzeugen als auch politische Konterbande mit sich führen will, muss sich sorgfältig zwischen diesen beiden Polen austarieren. Sie steht hier in einer seltsamen Analogie zur Vorstellung Kants: Anschauungen ohne Begriffe sind leer, Begriffe ohne Anschauung blind. Das Gedicht muss beides sein, beides besitzen, Verfremdung, Erschwerung des Konsums, bestückt mit Zugangssignalen, Anschlüssen bis hin zur Ermöglichung von Aha-Effekten und Bewusstseinserweiterungsangeboten.
Noch ein binnenlyrischer Zugang: Echte Gedichte sind auch – fast mystisch – direkter Ausfluss des dichterischen Seins / Bewusstseins, arabisch wahy , die Einflüsterung des Dichtergottes. Gerade hier ereignet sich der haptische oder besser: habituelle Zugang zum Gedicht, ich muss ja nichts verstehen, wenn ich durch Erspüren begreife.
Wenn Lyrik das nicht erreicht, ist sie keine. Oder keine gute. Das nicht-konstruierte, unwillkürliche, tachistische Element des Lyrischen …
Wenn das stimmt, resultieren daraus politische Konsequenzen: Dann ist das Entscheidende letztlich die persönliche Haltung des Lyriker/der Lyrikerin, ein politischer Mensch mit klaren Überzeugungen und Positionen, der/die Lyriker/in ist, kann – wenn er oder sie ästhetisch hochwertige Gedichte produziert, mit diesen letztlich nicht unpolitisch sein. Er oder sie kann eben nicht, teremtete.
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