Wortschutzgebiet – Lyrik meets Prosa

In Lyrik im Grenzgebiet by Max0 Comments

Im Juli 2015 trafen sich eine Handvoll Autor*innen auf einen selbstorganisierten Workshop in Brandenburg. Den Titel „Wortschutzgebiet“ haben die Organisator*innen des Treffens Paula Fürstenberg und Max Czollek zu verantworten. Er verweist auf die besondere Dunkelheit um das Kunsthaus Strodehne im Naturpark Westhavelland. Wie im vergangenen Jahr auch wurde das Treffen von einer Schreibarbeit begleitet, die das Verhältnis zwischen Lyrik und Prosa in einer Folge von vier Kettenbriefen erkundet. Die folgenden Texte sind also das Ergebnis jener Erkundungen im Grenzgebiet. Babelsprech freut sich, sie präsentieren zu dürfen.

TEXTKETTE A

Das Prinzip der Textkette besteht darin, dass jeder Text auf den unmittelbar vorhergehenden reagiert. Die folgende Textkette ist entstanden beim Literatursymposium „Wortschutzgebiet“ im Kunsthaus Strodehne, August 2015. Grundlage war ein mitgebrachter Text (1); für die Erarbeitung einer Reaktion war den AutorInnen ein Zeitfenster von maximal drei Stunden gesetzt.

 

A.1

Die Grundlage dieser Reihe bildete der Text „Kleine instabile Ortskunde“ von Zsuzsanna Gahse, in: dies.,“Instabile Texte. zu zweit“, Edition Korrespondenzen, Wien 2005, S. 34-40.

 

A.2 Max Czollek

ist es denn wirklich so, dass hinter wäldern die räume viereckig sich anschließen, ohne durchlässig zu sein für das licht? der ehemals tschechische, später brasilianische, nach dem krieg bei einem autounfall in der tschecheslowakei verstorbene philosoph vilem flusser spricht vom migranten als notwendigem innovator sesshafter gesellschaften. flusser deutet den begriff des migranten damit positiv als ausdruck jener nomadischen existenz, welche die längste zeit über die eigentliche lebensform des menschen gewesen ist.

wir befinden uns flusser zufolge an der grenze zwischen nomadischer und domestizierter existenz. die vier ecken unsere häuser sind durchlässig geworden, seitdem radio, internet und ortungssignale sie ungehindert durchdringen. ich notiere das aus dem gedächtnis, es könnte auch ganz anders sein. diese von flusser imaginierte nomadische existenz setzt die freiheit der bewegung voraus, von der ahrend meint, sie wäre die conditio sine que non für freiheit überhaupt: denn ihr wart sklaven in ägypten. flusser ist ein optimist. an den realen grenzen treffen die nomaden auf girlanden, die an ihren rändern mit rasierklingen verziert sind.

wo eine girlande ist, ist auch ein fest. was feiern wir also, wenn wir lyrik schreiben? heute vielleicht: die sprache und ihre eigenschaft als konfettikanone. das wort erzeugen nicht von sich aus einen widerstand sondern lässt sich willig in die räume knallen. es hat die funktion von konfettifetzen. die räume werden je nach auswahl und anordnung mit einem mehr oder weniger kaleidoskopischen muster geschmückt. lyrik stellt sich nicht in den weg sondern ist eine elaborierte schussvorrichtung. wir werden mit konfetti in die ecken schießen. wir werden das konfetti aufsammeln und wieder in die ecken schießen.

zuzana gahses bewegung zwischen wien, hamburg, münchen und der schweiz verbleibt im innenraum jener ausgedehnten partygirlande. vielleicht kann ich sagen: wir befinden uns mit ihr auf einem jener charterboote mit einer bunten lichterkette von heck zu bug, die am treptower park vorbei schippern. am ufer sitzt das lyrische ich und ist verträumt, neidisch oder wütend. oder es nimmt gerade einen tiefen schluck aus einer flasche und merkt gar nicht, was da vor sich geht. die menschen auf dem boot kann es nicht hören, deshalb beobachtet es sie. durch die erleuchteten fenster sieht es, wie sie stumm damit beschäftigt sind, eine champagnerpyramide zu füllen.

es ist ganz und gar nicht schlimm, wenn es das lyrische ich auch nach hundert jahren noch nicht verlernt hat, sich zu wehren. frage: warum nehmen juden keine schmerzmittel, antwort: weil die schmerzen aufhören könnten. wenn die hinzugekommenen nicht vergessen, auf welche weise sie behandelt worden sind, erzeugt das eine art wärme, die hannah ahrend in ihrem essay über kleist zutreffenderweise als weltlosigkeit beschreibt. aber selbst wenn der wunsch nach erinnern oder vergessen zwischen sitzenden und hinzugekommenen gleich sein sollte, ist er noch lange nicht identisch. unsere mütter, unsere väter, die 1. person plural ist eine anschauliche illustration dieser situation.

das lyrische ich könnte nun also versuchen, sich zu wehren. es könnte mit dem fuß aufstampfen. es könnte auch einen brief schreiben und ihn in die leere flasche stopfen. die flasche wiederum könnte es in den fluß werfen. es könnte die flasche auch in richtung boot werfen, halb wütend, halb hoffend, jemand möge auf das deck treten. es könnte auch den wald niederbrennen, der sich bis zur rummelsburger bucht erstreckt. aber all das bliebe unbemerkt, wenn es nicht anerkennt, dass die verzierten sinuskurven eigentlich girlanden sind, wenn es nicht gleichzeitig mit konfetti wirft, auf das boot steigt um zu feiern.

 

A.3 Lea Schneider

was feiern wir also, wenn nicht sicher sagbar ist, auf welcher party wir sind, sondern nur, dass wir nicht von ihr runter kommen? viel-leicht die fortsetzung der wirklichkeit mit anderen mitteln. vielleicht aristoteles‘ definition von materie als die indeterminierte fähigkeit zu widersprüchen. vielleicht unsere behauptung, wir könnten die ge-schichte ins messer laufen lassen, ohne teil von ihr zu sein. viel-leicht das unbehagen unter der kruste des sprechens, das wir all-mählich erahnen können. vielleicht die neugründung eines trai-ningslagers für dreistigkeit, das heißt, vielleicht das erlernen der fä-higkeit, etwas so lange für normal zu erklären, bis keinem mehr der unterschied auffällt. vielleicht unseren undeutlichen aufenthalt among jokes and caresses, vielleicht die verweigerung von schmerzmitteln, die verweigerung des konjunktivs als friedensver-trag, vielleicht, dass alles, was wir aus dem gedächtnis notieren, ganz anders sein könnte.

 

A4 Nele Wolter

was, wenn die Substanz unbekannt ist
und nur, dass du drauf hängen bleibst
der Rausch sich fortsetzt in den Mitteln
einer anderen Wirklichkeit, im Stoff etwas
wie die Fähigkeit zu Widersprüchen, die
einbrechen könnten und die Geschichte
könnte ins Messer laufen, dein Gestammel:

du wirst nicht teilnehmen
du wirst nicht sprechen
dir wird nicht gut sein

erklärst den Rausch zur Normalität
es fällt keinem der Unterschied auf,
wenn du dich oft genug wiederholst
among jokes and caresses
Injektionen und Schmerzmittel
du wärest für Frieden wirst du sagen
du wirst das alles notieren
und denken, dass es ganz anders sein könnte

 

A5 Nora Zapf

bitte umdrehen

notizen für einen wahnsinns
trip geht spasmatisch
sprengt diese verfluchten
dächer von den einsiedlern
man bekennt sich süchtig
nach nomaden, zum witz
legt man sich felle aus
gesichtern zu

vorsicht: von den behörden wird dringend zur umkehr geraten

als priester der substanzen
feiern sie dich in vulkanen
heiliges feld falscher berührungen
injizierst du venus und merkur
riechst du mit dem rücken
diese tage, festgeschnallt
an flügeln

bis hier und nicht weiter

rauchender seismographen

 

A.6 Paula Fürstenberg

Monolog für einen Sprechenden und einen Stummen

Bitte dreh dich um, ich will etwas notieren. Und schau mich bitte nicht so an. Spreng du doch die Verfluchten, spreng du doch die Dächer, ich will jetzt was notieren. Mir fällt das Blöken der Schafe ein. Du bist süchtig nach meinem Witz, aber das ist kein Witz: Ich will etwas notieren. Komm dreh dich um, sonst nehm ich mir ein Fell und bedecke dein Gesicht. Es sind deine Behörden, die dringend zur Umkehr raten. Aber du willst gar nicht umkehren. Du willst was sprengen. Willst feiern wie die Substanzen brennen. Und du willst Priester sein? Ich werd jetzt was notieren, und zwar in das dafür vorgesehene Feld.
(notiert etwas)

Wusstest du, dass Lebende nicht gut brennen? Schau mich bitte nicht so an. Genau deswegen will ich, dass du dich umdrehst: Du bist immer so empfindlich. Eine falsche Berührung und zack, Gift im Blick. Du riechst das Feuer bevor es brennt. Dabei sind es deine Behörden, die zur Umkehr raten. Aber lass uns das ein andermal diskutieren. Dreh dich um jetzt. Das meine ich nicht mit umdrehen. Mit dem Rücken zu mir. Danke.
(notiert etwas)

Drehst du dich nochmal kurz zurück zu mir bitte. Noch ein Stück. Stopp – ja, so. Das ist lustig, dieser Tage siehst du aus wie festge-schnallt. Festgeschnallt an Flügeln. Das findest du nicht witzig? Priester müssen aber Humor haben, wenn sie was sprengen wol-len. Wenn du das nicht jetzt mit mir diskutieren willst, dreh dich bitte wieder um. Noch ein Stück, ja, bis hier. Ich werd jetzt was notieren.
(notiert nichts weiter. Im Hintergrund sieht man einen rauchenden Seismographen.)

 

 

TEXTKETTE B

Das Prinzip der Textkette besteht darin, dass jeder Text auf den unmittelbar vorhergehenden reagiert. Die folgende Textkette ist entstanden beim Literatursymposium „Wortschutzgebiet“ im Kunsthaus Strodehne, August 2015. Grundlage war ein mitgebrachter Text (1); für die Erarbeitung einer Reaktion war den AutorInnen ein Zeitfenster von maximal drei Stunden gesetzt.

 

B1 Paula Fürstenberg (Auszug)

1998 bis 2004

Johannas gesamte Pubertät lang ist J arbeitslos. Während sie im Maisfeld am anderen Ende des Dorfes den ersten Kuss und die erste Zigarette hinter sich bringt, tut J nichts. Anstatt seiner Tochter beizubringen, wie man eine Kette wieder aufs Rad bekommt, tut J nichts. Auch während die Mutter tagelang den Briefkasten nicht öffnet, um keine weiteren Mahnungen darin zu finden, tut J nichts. Als die Mutter den zweiten Termin bei einem Anwalt hat, der J Alimente für das Kind abnehmen soll, sagt der Anwalt, er habe das überprüft, da sei nichts zu holen, die Mühe könne sie sich sparen. Das Wort „sparen“ setzt sich an diesem Tag im Wortschatz der Mutter fest. Und auch J spart. Er spart sich einen täglichen Fußweg zur Arbeit, er spart sich den Plattenweg nach Strasburg in der Uckermark, er spart sich Wege aller Art, Fahrwege, Gehwege, Postwege, Bremswege, Feldwege, Parkwege, Privatwege, Dienstwege, Flucht- und Rettungswege, Umwege, Schleichwege, Wasserwege und am gekonntesten spart er sich Mittelwege, Heimwege und Rückwege; nur den Holzweg spart er sich nicht.

 

1998 bis 2004, zweiter Versuch

Während seine Tochter Johanna so gut es eben geht pubertiert, ist J arbeitslos. In dieser Zeit steht er manchmal in seiner Wohnung und vermisst die Werkzeuge. Er nimmt dann einen Hammer aus dem Werkzeugkasten und lässt ihn immer wieder von einer Hand in die andere fallen. Manchmal ist ihm der Hammer nicht schwer genug und er macht dieselbe Übung mit dem Akkubohrer, von rechts nach links und zurück und von vorn. Er denkt dabei an nichts besonderes.

Manchmal sitzt J an seiner Theke und trinkt Bier. Seine linke Hand streicht über die Steine, die in Fischmustern angeordnet sind. Das geht aufs Haus, sagt der Wirt am Ende des Abends, wenn draußen die Straßenputzmaschine vorbeifährt und J einen Turm aus 10-Pfennig-Stücken auf seine Theke baut.

Manchmal lernt J eine Frau kennen.

Manchmal schaut J auf seine Hände und stellt fest, daß die Haut ganz weich geworden ist, daß da keine Schwelen und keine Hornhaut mehr sind, wo Schwelen und Hornhaut sein müssten, Mädchenhände, denkt er. Dann stellt er den Werkzeugkasten in die Mitte des Zimmers und werkelt ein paar Tage lang; er fliest das Bad oder sägt die Stuhlbeine ab, bis der Stuhl ein Kinderstuhl ist. Wenn er die Glühbirnen austauscht, steigt er nicht von der Leiter, sondern läuft mit ihr bis zur nächsten Lampe. Um nicht aus der Übung zu kommen, denkt er.

Immer öfter zieht J durch die Kneipen, bald kennt er die ganze Stadt und die ganze Stadt kennt ihn, aber nur beim Vornamen. Manchmal gewinnt er eine Wette, denn er kann in weniger als 30 Sekunden einen sehr hohen Turm aus 10-Pfennig-Stücken bauen, der nicht umkippt. Er spielt immer um die nächste Runde.

Manchmal nimmt J eine Frau mit nachhause.

Manchmal denkt J: Jeder hat das Recht, nichts zu tun. Und dann denkt er: Ich tue ja nicht nichts, ich werkele oder trommele oder baue Türme aus 10-Pfennig-Stücken.

Manchmal trommelt J. Er trommelt auf allem, was unter seine flache Hand passt, auf Lampenschirmen, Fahrradsätteln, dem Werkzeugkasten; manchmal nimmt er zwei Bleistifte als Trommelstöcke. Dabei denkt er an alte Zeiten und würde gerne wieder einmal die Lieder von damals hören, von den „Geringelten Strümpfen“. Und er bereut, daß sie nie eine Aufnahme gemacht haben, die er seinen Töchtern vorspielen könnte, wenn sie einmal kommen und nach früher fragen.

gez. IM Selene

 

B2 Nele Wolter

Johanna/Perspektive I

eine farblose Weile
(er bekommt das nicht mit)
ihre ersten Verstecke
und Zigaretten im Maisfeld
die Kette springt raus
(er spart sich die Wege)

stattdessen vielleicht
ist da nichts zu holen
die einzige Richtung ist falsch

Johanna/Perspektive II

eine farblose Weile
(es fehlen die Aufgaben)
liegt nichts gut in der Hand
das Bad neu fliesen
das Nichts mal tun
(die Wege zweimal gehen)

stattdessen vielleicht
kommt Johanna einmal
die einzige Richtung ist Kreis

 

B3 Tristan Marquardt

johannas sätze

(1)

so verhalten sich worte und zeit: ich ordne sie so lange, bis es mich auf die seite der sprechenden treibt.

was ich sage, entfernt sich, aber nicht, was es meint.

ich gehe einen weg, der zwei orte kurz zu verbinden scheint, aber dann wieder trennt.

wege, die ich spare, sind wege, die ich in reserve habe.

ich vergesse, was ich verstecke, zu entdecken.

stattdessen rauche ich eine zigarette.

ich vergleiche die zigarette mit allen zigaretten, die ich geraucht ha-be, und komme zu keinem ergebnis.

eine weile hat keine farbe.

(2)

ich schreibe, damit möglichst wenig herumliegt.

ich habe fliesen in der hand, aber noch nie gefliest.

ich sage, einmal hast du schon gefliest, aber ich habe noch nie ge-fliest.

ein kreis hat keine richtung.

Anmerkungen:
–    „ich ordne sie so lange, bis es mich auf die seite der sprechenden treibt“: ab-gewandeltes zitat von franz dodel
–    „was ich sage, entfernt sich, aber nicht, was es meint“: abgewandeltes zitat von franz dodel
–    „ich vergleiche die zigarette mit allen zigaretten, die ich geraucht habe, und komme zu keinem ergebnis.“: abgewandeltes zitat von maruan paschen
–    „ich schreibe, damit möglichst wenig herumliegt“: zitat von franz dodel

 

 

 

B4 Daniel Bayerstorfer

TRISTANS SÄTZE

Am Ende meiner Zigarette tuschelt die Glut mit der Zeit,
Der Norden entfernt zum Horizont hin säuberlich den Weg,
Ich verlege Kreise, damit Richtung nicht mehr einfach so
rumliegt: eine letzte Warnung für Euklid. Ich habe nie etwas
anderes getan, als zu fliesen, doch hatte ich niemals Fliesen
in der Hand. Ich verstecke, was ich nur wieder entdecke, um
es zu vergessen. Habe Ordnung in Reserve, falls es dazu
kommen sollte, dass ich spreche. Ich spare mir die Be-
Stimmung von Greifvögeln auf, bis zu dem Tag, an dem
ich hinunterstoße aufs Feld, bis zu dem Tag, an dem der
täglich geprobte Aufstand der Farben gelingt. Ob ich den
Weg schon mal verlassen habe, der diese beiden Orte trennt?
Hab ich nicht.

 

B5 Nora Zapf

sätze des jungen pythagoras

hängt ein handtuch am wäscheständer
klappt richtungen aus1

faltest kreise zusammen
zu klumpen2

hängt der wäscheständer
an richtungen fest
mit klumpen
an den falten3

1 falscher sonnenschirm
2 siehe: kosmos
3 falten, wie sie normalerweise nur fliesen machen

 

B6 Deniz Utlu

Netze des jungen Pythagoras

Vektoren gesucht[1], in einem nassen Handtuch geendet. Die Hypotenuse um den Hals geschlagen – das galt als obszön. Der Kreis[2], nichts, nur eine falsche Berechnung des Alten.

Ergo: Die Schirme zurückgeklappt, die Richtungen auf ihre Ausgangspunkte zurückgewiesen, die rechten Winkel zurückgewaschen. Den Fliesen platzen gar keine Falten[3]. Das sind Fußspuren[4] von Enten[5].

 

[1] Z. B. ich

[2] Eine Schlinge im Sommer

[3] parallelepipedischer Ausschluss

[4] Dreiecke

[5] Wahrheit, qed

TEXTKETTE C

Das Prinzip der Textkette besteht darin, dass jeder Text auf den unmittelbar vorhergehenden reagiert. Die folgende Textkette ist entstanden beim Literatursymposium „Wortschutzgebiet“ im Kunsthaus Strodehne, August 2015. Für die Erarbeitung der Texte war den AutorInnen ein Zeitfenster von maximal drei Stunden gesetzt.

 

C1 Lea Schneider (Collage mit Einträgen aus dem Großen Svensson Vogelführer. Alle Arten Europas, Nordafrikas und Vorderasiens. Kosmos, 2009)

Großtrappe
Im Frühjahr spektakuläre Gruppenbalz, bei der die Männchen einen Großteil ihres Gefieders von innen nach außen krempeln.

Ziegenmelker
Singt oft 1 km weit hörbar hart schnurrend. Ist ein Weibchen in der Nähe, geht das Schnurren in eine hackende Tonfolge über und stirbt wie ein ausgehender Motor ab.

Kampfläufer
Keine Ausnahmeerscheinung. Meist stumm, äußerst selten tief grunzende Töne.

Rohrdommel
Wird oft von Möwen verfolgt. Im Flug wie eine Mischung aus Reiher und Uhu.

Nordamerikanische Rohrdommel
Nicht so heimlich wie Rohrdommel, öfter auch tagsüber offen her-umlaufend.

Doppelspornfrankolin
Steht gern in Bäumen.

Kaukasuskönigshuhn
Hüpft und springt leichtfüßig; flüchtet mit langen Gleitstrecken und explosionsartig kurzen Flügelschlägen schwindelerregend steilt hangabwärts.

Waldrapp
Segelt häufig (Sichler dagegen nicht).

Wüstengimpel
Gesang besteht hauptsächlich aus eigentümlich nasalem und ge-dehnt summendem Ton, sowie lautem, geradlinigem, rauem metalli-schen Surren. Erinnert an Spielzeugtrompete, oft auf zwei ver-schiedenen Tonhöhen.

Löffler
Stumm.

Rotaugenvireo
Größe und Gesamteindruck ähnlich Gelbspötter. Oft träge und schwerfällige Bewegungsweise, etwas an Gartengrasmücke erin-nernd. Kann sich allerdings auch schneller bewegen.

Rosenbrust-Kernknacker
Als Irrgast oft in Brombeeren beobachtet.

Einödgimpel
Besucht morgens (ca. 9.00h) Trinkplätze.

Unglückshäher
Geht seinen Geschäften meist ruhig und vertrauensvoll nach. Nah-rungssuche auch an Elchschlachtplätzen.

Weißohrbülbül
Offenbar ähnlich Gelbsteißbülbül, genaue Untersuchungen fehlen jedoch.

Bartkauz
Würdevoller Gesichtsausdruck, im Profil wie ein Nebelhorn.

Senegaltscharga
Unverwechselbar!

 

 

C2 Daniel Bayerstorfer

 

Bei den Elchschlachtplätzen

In der Zeit als Heldentenöre noch wirklich starben im Frühjahr,
diese Männchen, die ihre Stimme von innen nach außen
krempeln wie theatralische Attrappen, verloren sie den Großteil
ihres Gefieders, ging das Schnurren in eine hackende Tonfolge

über, grunzende Töne (Guuurunzzzz) Das Ziegenmelker-Weibchen
im Händedruck zwitschernd sieht dunkel und das Licht starb ab
wie ein ausgehender Motor und diese Oper, wie eine Mischung aus
Reiher und Uhu, stand gern in Bäumen. So eigentümlich nasal und

gedehnt war an diesem Abend der Otello, sonst schwindelerregend
Hangaufwärts flüchtend. Größe und Gesamteindruck ähnlich der
Gelbspötterdämmerung oder dem Rotaugenvireo. Venedig führte gerne
Krieg gegen Walhall oder die Osmanen (oft von Brombeeren beo-bachtet:

die Generäle). Da hüpfte und sprang das Profil eines Nebelhorns, einer
Spielzeugtrompete à la Gelbsteißbülbül, wie der Weißohrbülbül,
doch dieser Otello (mit rauem Metallischen Surren ) oft von
Möwen verfolgt, stand männlich am Ruder, sang heldenhaft von

Backbord nach Steuerbord und auch Desdemona war meist bis zu
1 km weit hörbar (vom Lido aus) mit langen Gleitstrecken zwischen
Kehle und Mund. Und Otello, dieser Rosenbrust-Kernknacker, die-ser
Undglückshäher intimer Stunden. Und Desdemona, die Garten-grasmücke
ging ihren Geschäften einst ruhig und vertrauensvoll nach.

 

C3 Paula Fürstenberg

 

FRÜHER BEI BÜLBÜL

Früher, denkt sie und bricht ab. Stattdessen denkt sie an ihr Versprechen: Ich darf keine Sätze mit früher beginnen. Auch keine gedachten. Denn früher ist immer ein Frühjahr, ist immer ein Todeszeitpunkt. Sie findet sich konsequent und hebt zufrieden das Fernglas.

Der Vogel steht in einem Baum, der nicht näher bestimmt werden muss, denn es gilt den Vogel zu bestimmen, nicht den Baum. Später im Leben ist vielleicht Zeit für Bäume, denkt sie und fragt sich kurz (aber wirklich nur ganz kurz), ob sie Sätze mit später beginnen darf und ob später nicht auch immer ein Frühjahr und immer ein Todeszeitpunkt ist.

Der Vogel ist ein Ziegenmelker-Weibchen. Es zwitschert oder grunzt, es balzt oder ruft, der Unterschied ist nur hörbar, nicht sichtbar, und sie hört nicht, sieht nur: einen offenen Schnabel und eine gestreckte Kehle, mehr als einen Kilometer gegen den Wind entfernt. Der Laut, wenn sie ihn hören könnte, wäre ein Guuurunzzzz, ganz gleich ob gezwitschert oder gegrunzt, gezwitschert aber eine None höher als gegrunzt. Sie denkt an die Oper, in der eine None keine erwähnenswerte Entfernung ist, und schaut auf die Kehle des Ziegenmelker-Weibchens, in der eine None die größtmögliche Entfernung ist. In ihrer eigenen Kehle verringert sich der Abstand zu einem früher oder später und sie lässt das Fernglas sinken.

Vor ihr bewegt sich die Brombeerhecke im Wind, von Backbord nach Steuerbord und zurück und so fort. Die roten Beeren schauen sie an, sie ist von der Dämmerung verspottet. Immerhin ist nicht Frühjahr, denkt sie. Ihr schaut auf eine Generälin, denkt sie. Und erschrickt, ihre Stimme zu hören. Es ist dieselbe Stimme, die sie am Steuer des Schiffs hat singen hören, mit Kurs auf Bülbül, wo Krieg war. Damals war ihre Stimme begleitet vom Kreischen der Möwen und dem rauen, metallischen Surren des Schiffs. Das Schiff hieß wie eine Oper oder ein Drama oder ein Buch, irgendetwas Hochkulturelles. Die Brombeeren warten auf Antwort, aber sie kann sich nicht erinnern, weiß nur, dass sie geschummelt hat, einen Satz mit damals begonnen hat, und dass dieses Damals dasselbe ist wie das Früher, das wiederum dasselbe ist wie ein Frühjahr und ein Todeszeitpunkt.

Sie denkt nicht an die, denen sie das Versprechen gab, und hebt das Fernglas. Das Ziegenmelker-Weibchen steht im Baum. Es schnabelt hektisch eine Gartengrasmücke (jetzt ist auch ein Todeszeitpunkt), wo keine Männchen zu haben sind, weil die schon im Frühjahr starben. Früher ging das Ziegenmelker-Weibchen seinen Geschäften ruhig und vertrauensvoll nach.

 

C4 Max Czollek

da ist kein zwitschern, kein summen
die magneten schweigen, ich habe vergessen
wo überwintern, entschuldige, april
brutalster aller monate, wirft mir flecken auf
die innere landkarte, in den zweigen
zwitschert der tod, grutzt wie ein pharaonen
ziegenmelker und die sonne liegt mir
als säge auf der zunge, in streifen auf dem
mantelkragen, zerhackt sprache wie
stotternde motoren sich entfernender boote
manchmal denke ich uns als figuren
einer unvollendeten oper die sich in kajüten
schmiegen, leicht sind wie wolken
erhaben wie licht, nur noch warten, dass die
brombeerhecken in flammen stehen
um sich briefmarken auf die zunge zu kleben
darüber grutzte weiterhin der tod
unbeirrt von den heckenscheren mittels derer
wir teiche zerschnitten, lieber aron
wir dürften keine sätze mit früher oder damals
mehr denken, denn die beiden wände
der gegenwart rücken auf uns zu wie ränder
einer wunde die nicht heilen darf
offen bleibt solange du meine arme hältst

 

C5 Tristan Marquardt

 

kein zwitschern, kein summen
so ist die landschaft ohne strom

gleich redet der april, und wenn er will, ist er gleich wieder still
der april ist still

ich habe meine innere landkarte verloren
wenn du sie findest, wirf sie weg

die sonne findet mich
ohne dass ich mich ihr zuwende

motoren, motoren, stotternde motoren
wo werdet ihr repariert worden sein?

manchmal denke ich uns als figuren einer oper in kajüten
wie wir angst haben, wie wir abgehen

wie wind die berge schleift
wie wolken den himmel schmirgeln

gegenwart: wunde, die nicht heilen darf
vergangenheit: wunde, die nicht heilen durfte

Anmerkungen:
–    „wie wir angst haben, wie wir abgehen“: zitat von christiane heidrich
–    „wie winde die berge schleift“: abgewandeltes zitat von christoph meckels

 

C6 Nora Zapf

der berg beschwert sich
zwei stromlinige landschaften
stehlen sich davon
im april, in dem es diesmal
keine vögel gibt
ans wasser müsste man gehen
will man motoren sehen
die über wunden fahrn
aus angst hat sich
ein portolan
im nil versenkt
wartet
auf anweisung
von musikalischen zombies
der zweiten generation

 

C7 Anna Hetzer
berge, eine hochgeklappte landschaft,
auf der man nicht sitzen kann,
notieren den flussverlauf
und die flugformationen der vögel.
vor dem sommer stehen touristen,
multiplizieren die aussicht
auf seen. so klar ist das wasser,
dass es die spuren verwischt. vom tal
läuft musik in die landschaft.

 

 

 

TEXTKETTE D

Das Prinzip der Textkette besteht darin, dass jeder Text auf den unmittelbar vorhergehenden reagiert. Die folgende Textkette ist entstanden beim Literatursymposium „Wortschutzgebiet“ im Kunsthaus Strodehne, August 2015. Grundlage war ein mitgebrachter Text (1); für die Erarbeitung einer Reaktion war den AutorInnen ein Zeitfenster von maximal drei Stunden gesetzt.

 

D1 Max Czollek

LPG wortschutz

gib mir feldsteine
für die manteltaschen
damit ich schwer genug werde
zu bleiben wenn es regnet

gib mir traktoren
den boden aufzureißen
assoziationen wie winterweizen

nicht liebe gib mir
eine schreibmaschine
mit einem klackern
wie von durchlauferhitzern
in den gasküchen meiner kindheit

elliptisches aufschlagen
der buchstaben
für unverwandte nachmittage

 

 

D2 Paula Fürstenberg

Anleitung für zwölf Schützen und ein Kunsthaus
Strodehne 2015

1. Nimm dir was für deine Manteltaschen. Such dir was aus. Eicheln oder Rapfen oder meinetwegen auch Feldsteine. Hauptsache du hast die Taschen voll. Hauptsache du bleibst.

2. Schau dir einen Traktor an. Wenn kein Traktor da ist, schau dir eine Papierpresse an. Hauptsache du schaust dir ein technisches Gerät an. Geh nah ran zum Schauen. Erzähle den anderen davon.

3. Reiß was ab. Ein Blatt oder einen Halm oder eine Ähre. Frage dich, ob das Gerste oder Hafer oder Weizen ist und wie man im Winter erkennt, was hier normalerweise wächst. Normalerweise ist Sommer. Ganz selten auch Silvester.

4. Denke nicht an Liebe, du denkst sonst schon oft genug an Liebe.

5. Denke täglich an die Küche deiner Kindheit. Frage dich, welche Epoche, die du historisch glaubtest, du dort gelernt hast. Vergleiche die Küche deiner Kindheit mit der Küche hier. Denke darüber nach, welche besser ist und warum. Mach dabei keine einerseits-andererseits-Konstruktionen. Komme zu einem eindeutigen Ergebnis.

6. Gehe nicht auf die Spülfelder. Schreibe nicht über die Spülfelder. Schreibe nichts Pathetisches, sonst brennt die Heide. Aber schreib was auf. Zur Not auch was Pathetisches. Hauptsache du gehst nicht auf die Spülfelder.

7. Beachte nur die unausgesprochenen Verbote. Wir sind ja nicht verwandt.

 

 

D3 Nora Zapf

anleitung zur regelmäßigkeit

kommt dir das jahr vor wie rapfen
auf einem traktor, der seine spuren verwischt

diese art der taschen werden immer leerer
wie hülsen von ähren bestohlen von oben

wo war denn dein erster schnee? bist du ihm im rechten winkel
entgegen in die küche gesprungen? war ein fenster zwischen euch?

jetzt aber erstmal sommer. auch ausgebaggerter schlamm kann türme verdauen
die möwen pathetisches abzwingen: bauchsprünge. handstände.

mäßiger regen und nachts milde bienenschwärme
ihr stachel von damals verneigt sich durch die wohnzimmertapete

wo du glücklich einen aufstieg im holz vermutest.

 

 

D4 Lea Schneider

anleitung für eine überfütterte jahreszeit

 

pathos erzwingen, ein enthusiastischer griff ins klo, direkt durch die wohnzimmertapete. bauchplatscher ins wesentliche, die jury zieht anderthalb punkte ab, für spritzer beim eintauchen. applaus vom rand des beckens, wo sich der sommer gegen den tag stemmt, hitze in dicken ballen von den hügeln rollt. eine szene, von der ich nicht weiß, warum sie mir immer zuerst einfällt. der bildschirmschoner meiner lahmarschigen fantasie. klar, das ist gespeichert. aber von all dem material, warum ist gerade das zuerst verfügbar? scripted reality, ein wunsch, der seine spuren verwischt. wenn ich sage: ich will endlich ankommen, heißt das nicht, dass ich da auch bleiben will.

 

 

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