Undercover im „Rotlicht“ (Frankfurt)

In Bühne frei by Nora Zapf0 Comments

Unter “Bühne frei” präsentiert Babelsprech.org Lesungs- und Veranstaltungsformate im deutschsprachigen Raum, die nicht an eine bestimmte Institution gebunden sind und auf dem Experimentier- und Spieltrieb der Veranstalter basieren. Ob Lesebühnen, Performancereihen oder interdisziplinäre Initiativen, wesentlich ist die sub-institutionelle Organsiationsform, deren Bedeutung für die selbstbestimmte Kommunikation junger Lyriker_innen kaum hoch genug geschätzt werden kann. Nach ART VISUALS & POETRY (Wien)NIEMERLANG (Berlin/Leipzig) und dem Literaturklub (Köln) stellt Nora Zapf heute die Reihe Undercover aus Frankfurt vor.

Undercover im „Rotlicht“

Die Dichtungsfans erobern neue Themen und Formate für die Vermittlung junger Lyrik in Frankfurt

Wie erschließt man sich neues Publikum für junge Literatur? Zum Beispiel so wie die Dichtungsfans, die in der Literaturstadt Frankfurt mit ungewöhnlichen Formaten immer wieder erfolgreich neue Wege finden, zeitgenössische Lyrik hörbar und diskutierbar, also: vermittelbar zu machen. Dabei geht es der Initiative junger Autor*innen darum, eine offene, unverfängliche Stimmung ins Haus zu bringen, viel Feedback aus dem Publikum einzuholen, mal ganz anders mit eigenen und fremden Texten umzugehen. Wenn Gedichte bei der Reihe Undercover an die Wand gebeamt werden, ohne den Namen des Verfassers/der Verfasserin zu nennen (meistens sind sie von zeitgenössischen Dichterkolleg*innen verfasst) und wenn dann mit dem Publikum diskutiert wird, was gefällt und was nicht, geht es vor allem darum, erste Eindrücke zum Gedicht einzuholen. Und zwar einen neutralen ersten Blick auf das Kunstwerk, der nicht sofort in Schubladen und nach Hierarchien gesteckt und geordnet wird. Vom Publikum wird ein Lieblingsgedicht gewählt, und erst am Ende des Abends werden den Texten dann Namen zugeteilt.

Die letzte Ausgabe der Reihe Undercover, die vergangenen Donnerstag im (Foto-)Studio 294 stattfand, stellte das Thema „Rotlicht“ in den Mittelpunkt. Man kann sich gut vorstellen, dass unter diesem Titel so einiges zusammenkommen oder aufeinanderprallen kann. Manche denken vielleicht zu schnell an Sex, Perversitäten und Peinlichkeiten, Verruchtheiten und Mafiafilme, andere an Macht, Gewalt, Zwang oder Ausgegrenztheit… aber es kann dabei auch einfach um das rote Licht der Ampel gehen oder um das Rot sehen bei zuviel Wein, wie es im Ankündigungstext der Veranstaltung schon angedeutet wird. Einfach alles in rot, an rot und um rot herum. Gewonnen hat am Donnerstag übrigens ein Gedicht von Helmut Krausser aus dem Band „Verstand und Kürzungen“ (2014 bei DuMont in Köln erschienen), mit im Finale war auch das Gedicht „sättigung“ von Charlotte Warsen aus dem Band „Vom Speerwurf zu Pferde“ (erschienen 2014 bei Luxbooks in Wiesbaden).

Wie es dazu kam..

In einer kleinen Apfelweinkneipe in Frankfurt-Sachsenhausen fand 2013 das erste Treffen der Dichtungsfans statt, die mittlerweile aus den vier Lyriker*innen Julia Mantel, Marcus Roloff, Sarah Schuster und Martin Piekar sowie dem Prosaautor Jannis Plastargias und vielen wechselnden Mitgliedern bestehen. Jannis Plastargias hatte sich zusammen mit Martin Piekar damals in besagter Kneipe und nach einer Veranstaltung von Michael Gratz gefragt, ob etwas ähnliches nicht auch in Frankfurt organisiert werden könne. So entstand die Idee zu den ersten Formaten  Undercover und Clubpoesie, einer Lesung zum Thema Alkohol, Clubbing, Musik. Später wurde dann die Reihe Poesie einer Ausstellung ins Leben gerufen, bei der Lesungen im Ausstellungsraum Eulengasse stattfinden, einer Galerie junger bildender Kunst, mit der die Dichtungsfans seit Längerem kooperieren. Die Lesung läuft wie eine Führung ab, man geht von Bild zu Bild und es werden zu einzelnen Kunstwerken eigens angefertigte oder herausgesuchte Gedichte gelesen.

Besonderer Wert wird auf die Interaktion mit dem Publikum gelegt, auf den Dialog und das miteinander Reden auf einer Augenhöhe. So ist es auch beim Trinkfest gedacht, das letztes Jahr bei der Buchmesse Premiere hatte. Zusammen „saufen und dichten könnte man das Konzept vereinfacht zusammenfassen“, sagt Jannis Plastargias augenzwinkernd. „In Wahrheit ist es natürlich komplexer“, fügt er hinzu, eigentlich gehe es vor allem darum, die Bühnensituation aufzulösen, alle könnten Texte mitbringen oder einfach zuhören und mitdiskutieren. Das sorgt für ganz neue Stimmen und Stimmung zu den Gedichten. Es werden oft neue Räumlichkeiten für die Abende gesucht, und zwar Off-Locations, zum Beispiel Orte der Subkultur wie das Blaue Haus, oder das Studio 294, oder wie für das letzte Trinkfest: „in einer alten Pokerhölle, ohne Fenster, mit ganz viel Samt überall, man durfte drinnen rauchen, die Gegend „mies“ oder positiv gesagt: verrucht“ (Jannis Plastargias).

Im Mittelpunkt steht die Lyrik

Im Mittelpunkt steht bei all diesen unterschiedlichen Formaten die Lyrik. „Was uns zusammenhält ist einfach: Lyrik. Wir wollen dem Gedicht eine Öffentlichkeit geben, Dichtungsfans ist eine Art Präsentation-Plattform für das Gedicht“, sagt Martin Piekar. Im Manifest der Dichtungsfans, die sich selbst als offenen, fluiden Arbeitskreis verstehen, in dem niemand verpflichtet ist sondern jede*r nur sich selbst verpflichtet für einzelne Veranstaltungen, heißt es: „Das Gedicht breitet sich, ist ein Selbst. Oder wie ein Selbst? Wir sind Jeder. Oder wie Jeder? Wir gärtnern am Sprachbaum. Wir machen Gehäuselyrik, um drin zu wohnen. Nicht nur für uns und unsere für tief gehaltenen, abzutastenden Gefühle, Ernten der Selbstüberschätzung (wie ich, wie du), sondern als Raum für Einschnitte, Kritik, Analyse, die ausgenüchterte Betrachtung (…).“

Niederschwellig soll der Rahmen und der Raum sein für die Vermittlung dieser Lyrik. Und dort soll vor allem neue, zeitgenössische Lyrik von jungen Dichterkolleg*innen besprochen werden, um sie mehr in Umlauf zu bringen, um mehr Leute anzustecken und zu begeistern. Werkstattcharakter sollen die Veranstaltungen haben, wo sich alle Dichtungsfans (der Name stammt übrigens von Sandra Klose) treffen und austauschen können – das heißt Fans des Dichtens genauso wie Fans vom Lesen bestimmter Dichter*innen und alle Lyrikfans allgemein, und zwar einer Lyrik in Kommunikation mit anderen Medien wie Musik und Kunst. Man merkt den sorgfältig ausgewählten Veranstaltungstiteln der Fans zwei fundamental wichtige Dinge der Lyrik an: ihren Ernst und ihren Spaß.

 

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