Stimmfleisch: Zwei (Die Ästhetik des Performativen)

In Lyrik im Livemodus by Robert Prosser0 Comments

Der Anfang des im Folgenden umrissenen, theoretischen Schlamassels ist gleichermaßen einfach wie bekannt: Performanz als Begriff erlangte – zumindest in der Linguistik – durch die Sprechakttheorie von John Langshaw Austin und dessen Frage How to do things with words?, sowie der theoretischen Erweiterung durch John Searle an Bedeutung. Auf der Grundlage der Entdeckung, dass eine sprachliche Äußerung nicht nur einen Sachverhalt beschreibt, sondern zugleich eine performative Handlung vollzieht, wurde die Performanz nicht minder prominent durch Judith Butler als Akt der Identitätszuweisung in der Gender-Theorie verankert.1 Wichtig für STIMMFLEISCH ist es nun, an der neueren Theorie zur Performance anzusetzen, an Gedankengerüsten also, die insbesondere von Erika Fischer-Lichte und Dieter Mersch unter der Fachbezeichnung Ästhetik des Performativen aufbereitet und bearbeitet wurden, bzw. werden.2

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Ausgehend vom Mitte des 20. Jahrhunderts in Literatur und Kunst einsetzenden „Performativierungsschub“3 wird der Auftritt, bzw. das Live-Erlebnis in den Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses gerückt. Fischer-Lichte bezieht sich verstärkt auf theaterwissenschaftliche Erkenntnisse, während die Überlegungen Merschs vor allem um die Person des Künstlers kreisen. Damit einher gehen berechtigte Kritikpunkte – nicht von ungefähr bemerkt der Theaterwissenschaftler Ulf Heuner wegen undifferenzierter, fast beschwörender Verwendung von Begriffen wie Transformation oder Entgrenzung, bzw. aufgrund der ausufernden Veröffentlichungspraxis: „Aus der Wissenschaft des Performativen ist wohl längst eine performative Wissenschaft geworden.“4 – dennoch bietet eine Ästhetik des Performativen ausreichend Anhaltspunkte, um aus literaturwissenschaftlichen Sichtpunkten den Moment der Aussprache, den Augenblick des performativ vorgetragenen Textes fruchtbar(er) zu machen, und den Körper des Sprechenden mitzudenken, dem Ausgangspunkt zufolge, dass

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(…) notwendig aller Ausdruck an die Leiblichkeit rückgebunden bleibt, die sich ihrerseits nicht vollständig im Symbolischen preisgibt, vielmehr es allererst austrägt, wobei die Präsenz des ganzen Körpers eine Rolle spielt, seine Gestalt und Verhaltung, sein „Fleisch“. Denn der Körper fügt sich keiner Schrift oder Be-zeichnung, sowenig er sich konstruieren oder de-konstruieren lässt. Von ihm gibt es weder eine Repräsentation noch läßt er sich zum Bild machen – vielmehr bildet er den Hintergrund, kraft dessen überhaupt Repräsentationen oder Bilder entstehen.5

 

Durch den Vergleich des Körpers mit einer Art Leinwand verweist Mersch auf den französischen Philosophen Jean Luc Nancy, in den  Schriften zur performativen Ästhetik bezüglich der prominenten Positionierung des Körpers gerne als Vorläufer zitiert. Nancy erfasst den Körper als „nacktes Bild“, welches zwar sämtliche Abbilder und Zeichen der Realität tragen kann, seinem Wesen nach aber leer und ohne Symbol ist:

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Die Körper sehen heißt nicht, ein Mysterium zu enthüllen, es bedeutet, das zu sehen, was sich dem Sehen anbietet, das Bild, die Menge der Bilder, die der Körper ist, das nackte Bild, wobei die Arealität entblößt wird. Dieses Bild ist aller Vorstellungswelt, aller Erscheinung fremd – und gleichfalls aller Deutung, allem dechiffrieren. Einen Körper kann man nicht dechiffrieren – ausgenommen die Tatsache, daß die Chiffre eines Körpers dieser Körper selbst ist, nicht chiffriert, ausgedehnt.6

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Nancy war ein enger Vertrauter Jacques Derridas, als dessen Antithese sich die hier zu behandelnde Ästhetik in ihrem Denken eines einzigartigen, zeichenlosen und nichtdeutbaren Leibes verortet7. Im Gegensatz zu Derridas Grammatologie und deren Favorisierung der Schrift unternimmt die Ästhetik des Performativen den Versuch, die Stimme als phänomenalen Leib in den Vordergrund zu rücken, bzw. der Aussprache und der körperlichen Anwesenheit die Eigenschaft des Undeutbaren anzuerkennen. Es handelt sich um das flüchtige Wesen der Laute, die wie die Körperlichkeit des Handelns

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jeweils eine Gegenwart voraussetzen: nicht der Botschaft im Vollzug, der Bedeutung im Zeichen oder des Signifikats im Signifikanten, wie es Derrida unterstellt, sondern der unmittelbaren Anwesenheit der am Dialog Beteiligten: Geschehnis eines verborgenen Zeigens, das in deren Sagen eingreift, es unterstreicht, durchkreuzt oder zuweilen sogar außer Kraft setzt. Sie bleiben als ihr Anderes der Schrift äußerlich: So entspricht der Opposition von Stimme und Schrift die Trennung zwischen Performativität und Signifikanz, Präsenz und Zeichen, Ereignis und Sinn oder der Markierung einer Spur.8

 

Die Stimme liefert demnach in ihrer Aussage eine Intensität, bzw. ein „unterschwelliges Sprechen“, welches im Dekonstruktivismus nicht berücksichtigt wird: „Die Anwesenheit der Schrift beruht auf Wiederholung, die des Lautes auf Singularität, deren Zeitmodus entsprechend auf dem Perfekt, der Nachträglichkeit, ihrer hingegen auf der Gegenwart, dem Augenblick.“9 Derrida zufolge gibt es eine solche „Gegenwart“ nicht, stattdessen vielmehr einen fortlaufenden Prozess der Iterabilität:

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Das, was ich Text nenne, ist alles, ist praktisch alles. Es ist alles, das heißt, es gibt einen Text, sobald es eine Spur gibt, eine differentielle Verweisung von einer Spur auf die andere. Und diese Verweise bleiben nie stehen. Es gibt keine Grenzen der differentiellen Verweisung einer Spur auf die andere. Eine Spur ist weder eine Anwesenheit noch eine Abwesenheit. Folglich setzt dieser neue Begriff des Textes, der ohne Grenzen ist, (…) voraus, dass man in keinem Moment etwas außerhalb des Bereichs der differentiellen Verweisung finden kann, das ein Wirkliches, eine Anwesenheit oder eine Abwesenheit wäre.10

 

Den geschilderten Prozess der differentiellen Verweise versucht die Ästhetik des Performativen zu stoppen, in dem sie Derridas allumfassenden Universaltext die Leiblichkeit der Stimme entgegenhält. Diese ist „in ihrer Materialität bereits Sprache, ohne erst Signifikant werden zu müssen“11 und agiert zeichenfrei aus sich selbst heraus:

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Laut, als Singularität, als intensives Geschehen, als leibhafte Manifestation, die begegnet und durch die der Andere teilnehmend zugegen ist, sich aussetzt, entblößt, zeigt, auch das, was nicht gesagt wird oder gesagt werden kann, was nicht in der Textur des Textes aufgeht, daher nicht einmal ausweisbar oder markierbar scheint und doch unabweisbar „da“ ist.12

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Erstaunlicherweise gelingt es der Ästhetik des Performativen ohne metaphysische oder esoterische Verweise auszukommen, obwohl Charakteristika wie die obig aufgeführten – absolutes „Da-Sein“, sinnbefreit aus und durch sich selbst existierend – eine auffallend spirituelle Tendenz besitzen, und etwa Ähnlichkeiten mit der Philosophie des Zenbuddhismus nicht von der Hand zu weisen sind, worin der Körper zwar nicht als zeichenfreies, aus Verweissystemen losgelöstes Element angesehen, ihm aber ein dem „Fleisch“ Merleau-Pontys (s. STIMMFLEISCH: Eins) nicht unähnlicher Wesenszug zuerkannt wird, nämlich das Potential, gegenwärtig zu handeln, sprich außerhalb der textlichen/semiotischen Kontextes.

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Kehren wir zurück zu John L. Austin: Er erstellte eine Liste von Bedingungen, die erfüllt sein müssen, um eine performative Äußerung zu bewerkstelligen13:

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(A.1) Es muß ein übliches konventionales Verfahren mit einem bestimmten konventionalen Ergebnis geben; zu dem Verfahren gehört, daß bestimmte Personen unter bestimmten Umständen bestimmte Worte äußern.

(A.2) Die betroffenen Personen und Umstände müssen im gegebenen Fall für die Berufung auf das besondere Verfahren passen, auf welches man sich beruft.

(B.1) Alle Beteiligten müssen das Verfahren korrekt

(B.2) und vollständig durchführen.

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Ein derart strenges Regelwerk, welches einer Aufführung exakte Rahmen aufzwängt und den darin beteiligten Personen Rollen zuweist, ist spätestens seit der FLUXUS-Bewegung oder dem Wiener Aktionismus nicht mehr vertretbar.14 Mit Beginn der 1960er Jahre wurden die Trennungen zwischen Publikum und KünstlerIn aufgebrochen: „Es ging nicht darum, die Performance zu verstehen, sondern sie zu erfahren und mit den eigenen Erfahrungen, die sich nicht vor Ort durch Reflexion bewältigen lassen, umzugehen.“15 Wie Fischer-Lichte ausführt, können Austins Bedingungen aufgrund ihrer Einfachheit der oftmals sehr komplexen und offenen Struktur einer Performance nicht gerecht werden, und veranschaulicht dies an der Aktion Lips of Thomas von Marina Abramovic:16 Am 24. Oktober 1975, in der Galerie Krinzinger in Innsbruck, aß die entkleidete Künstlerin vor Publikum einen Kilo Honig, trank eine Flasche Rotwein, zerschnitt sich mit dem Weinglas die rechte Hand, ritzte sich mit einem Rasiermesser einen fünfzackigen Stern in den Bauch, peitschte sich aus, legte sich auf ein Kreuz aus Eisblöcken und setzte sich zugleich einem Heizstrahler aus. Ihre selbstzugefügte Tortur endete erst, als nach etwa dreissig Minuten Zuschauer eingriffen und sie vom Kreuz zerrten.17

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Mit Lips of Thomas schuf Abramovic ein Werk, das nicht ohne sie existieren könnte, sie schlüpfte in keine Rolle, sondern verletzte sich selbst als Individuum: „Damit versetzte sie den Zuschauer in eine irritierende, zutiefst verunsichernde und in diesem Sinne qualvolle Situation, in der bisher fraglos gültige Normen, Regeln und Sicherheiten außer Kraft gesetzt zu sein schienen.“18 Aufgrund dieser Verunsicherung wird besonders die herkömmliche Rolle des Publikums als unbeteiligter Rezipient ausgehebelt:

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Abramovic schuf in und mit ihrer Performance eine Situation, welche die Zuschauer zwischen die Normen und Regeln von Kunst und Alltagsleben, zwischen ästhetische und ethische Postulate versetzte. (…) Was immer die Transformationen waren, welche die Zuschauer während dieser zwei Stunden durchliefen – Transformationen, die sich zum Teil durchaus in wahrnehmbarem körperlichem Ausdruck manifestierten -, sie mündeten in den Vollzug von allgemein wahrnehmbaren Handlungen ein, die wahrnehmbare Konsequenzen hatten. Sie setzten der Qual der Performerin und damit der Performance eine Ende. Sie verwandelten die beteiligten Zuschauer in Akteure.19

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Als Schlussfolgerung einer auf die Performanz fokussierten Theorie ergibt sich die Notwendigkeit einer neuartigen Klassifizierung:

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Für die Kulturwissenschaften steht bisher der Werkbegriff im Zentrum. Es gilt, das Werk in seinem Gemachtsein zu analysieren und zu verstehen. Wenn die Künste jedoch nicht mehr Werke, sondern Aufführungen, und d.h. Ereignisse, hervorbringen, wie es nicht nur Theater, Musik, Performancekunst tun, sondern seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts zunehmend auch die anderen Künste, dann greifen weder eine Werkästhetik noch auf sie bezogene Produktions- und Rezeptionsästhetiken. Ins Zentrum der Kunstwissenschaften muss vielmehr der Ereignisbegriff treten.20

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Den Ereignisbegriff festzumachen, gestaltet sich allerdings schwierig – wie soll theoretisch fixiert werden, was per definitionem außerhalb der Sinnzuweisungen und Textstrukturen passiert, sich nämlich live ereignet? Dieses Dilemma treibt den Großteil der Texte von Mersch um, die sich auf das Wechselspiel von „Ekstasis“ (die Kunsterfahrung), „Aura“ (die potentielle Möglichkeit dieser Erfahrung, die im Auftritt, bzw. einem Kunstwerk liegt) und „Präsenz“ (die Gegenwärtigkeit von Erfahrung, Kunst und Rezeption) konzentrieren,21 ein regelrechtes Triumvirat performativer Ästhetik, dem sich STIMMFLEISCH im nächsten Teil zuwenden wird.

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1vgl. Austin, John L.: Zur Theorie der Sprechakte. (How to do things with Words) Reclam 2002, Searle, John R.: Sprechakte: Ein sprachphilosophischer Essay Suhrkamp 1971, und Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter Suhrkamp 2003. Die eingehendere Beschäftigung mit diesen theoretischen Grundlagen zur Performanz würde Rubrik-intern zu weit führen, um die simple, jedoch bahnbrechende Erkenntnis von Austin zu würdigen, sei Wolfgang Stegmüller (Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie. Band II. Kröner Verlag 1987, S. 64) angeführt: „Eigentlich ist es ein Skandal. Und zwar ist es ein beschämender Skandal für alle diejenigen, welche sich in den letzten 2500 Jahren in irgendeiner Weise mit Sprachen beschäftigten, daß sie nicht schon längst vor J.L. Austin dessen Entdeckung machten, deren Essenz man in einem knappen Satz ausdrücken kann: Mit Hilfe von sprachlichen Äußerungen können wir die verschiedensten Arten von Handlungen vollziehen.“

2Siehe vor allem Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen Suhrkamp 2004 und Mersch, Dieter: Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen. Suhrkamp 2002 – sowie, stärker der Theorie von Aussprache verpflichtet, Kolesch, Doris und Krämer, Sybille (Hg.): Stimme. Suhrkamp 2006 – wissenschaftliche Arbeiten, die eine nicht kritiklos zu übernehmende, dennoch ausführliche, Literatur und Kunst großflächig beackernde Grundlage genannter Ästhetik bieten.

3Fischer-Lichte (2004: 23-26)

4Heuner, Ulf: Wer herrscht im Theater und Fernsehen? Parodos Verlag, S. 49

5Mersch, Dieter: Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis. Wilhelm Fink Verlag 2002, S. 58. (Im Folgenden als (2002b) ausgewiesen.)

6Nancy, Jean Luc: Corpus. Diaphanes 2007, S. 43)

7Für eine Darlegung der Kritik am Dekonstruktivismus siehe auch Weigel, in Kolesch, Krämer (2006: 16 – 22) und Fischer-Lichte (2004: 243 – 261)

8Mersch (2002b: 118ff)

9Mersch (2002b: 118)

10Derrida, Jacques, in: Postmoderne und Dekonstruktion: Texte französischer Philosophen der Gegenwart Reclam 2004, S. 20ff)

11Fischer-Lichte (2004: 226)

12Mersch (2002b: 116) Anzumerken ist, dass die Kritik an Derrida, derzufolge er sich einer allzu prätentiösen Schreibweise bediene, die ein wissenschaftliches Maß an Klarheit und Strenge vermissen lasse, auch auf Mersch anzuwenden ist, dessen Stil gleichsam oft schwer fassbar und seitenlang um Begriffe wie „Präsenz“ und „Aura“ kreist, ohne ein klares Statement zu produzieren. (Zur Kritik an Derrida siehe unter anderem einen am 2. Februar 1994 in New York Review of Books publizierten Artikel von John Searle, „An Exchange on Deconstruction“, nachlesbar unter: http://www.nybooks.com/articles/archives/1984/feb/02/an-exchange-on-deconstruction/)

13Austin (2002: 37)

14Vgl Schilling, Jürgen: Identität von Kunst und Leben? Eine Dokumentation Bucher Verlag 1978

15Fischer-Lichte (2004: 19)

16Fischer-Lichte (2004: 35), Fischer-Lichte (2004: 9-19)

17Eine Fotodokumentation findet sich in Meschede, Friedrich (Hg.): Marina Abramovic Ed. Crantz 1993, S. 86 – 95. Zur Bedeutung des Körpers im Schaffen von Marina Abramovic sei vor allem auf den in selbigem Buch enthaltenen Essay Im-Körper-Sein von Bojana Pejic hingewiesen.

18Fischer-Lichte (2004: 10ff)

19Fischer-Lichte (2004: 11ff)

20Fischer-Lichte, in: Musner, Lutz und Uhl, Heidemarie (Hg.): Wie wir uns aufführen. Performanz als Thema der Kulturwissenschaften Löcker Verlag 2006, S. 23ff

21Vgl Mersch, in: Kolesch, Krämer (2006: 211 – 236)

 

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