Stimmfleisch: Vier (Stimme)

In Lyrik im Livemodus by Robert Prosser0 Comments

Im vierten Teil von Stimmfleisch wollen wir das Augenmerk auf einen wesentlichen Aspekt der Performance richten: Die Stimme. „Vergiß deine eigene Stimme und strecke dich mit deinem ganzen Körper dem Anreiz entgegen und reagiere auf ihn. Dann lebt der Körper, die Stimme lebt, zuckt, vibriert wie eine Flamme, wie ein Sonnenstrahl, der von unserem Körper ausgeht und den Raum erleuchtet und wärmt.“ – so Eugenio Barba, der bereits vergangenes Mal Erwähnung fand. Das gesprochene, geschrieene, skandierte, geflüsterte Wort als Flamme und Sonnenstrahl – das und einiges mehr findet sich in der folgenden Sammlung von Zitaten und Weitergesponnenem.

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Stimme

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„Versteht man den (stimmlichen) Klang als die Struktur, dann könnte die Stimme als die ‚Schrift‘ des Gedichtes bezeichnet werden.“1 Als diskursbefreit, gegenwärtig, losgelöst von Einschreibungen, die den „semiotischen Körper“ kennzeichnen, wird das Phänomen der Stimme charakterisiert: diese ist

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ein Schwellenphänomen. Denn sie ist immer zweierlei: Sie ist sinnlich und sinnhaft (…) einerseits unverwechselbares Indiz der Person wie andrerseits Träger konventionalisierten Zeichengebrauchs (…) Ausdruck einer immer auch geschlechtlich konnotierten Individualität wie auch Organ elementarer Vergemeinschaftung. Die Stimme ist also nicht einfach Körper oder Geist, Sinnliches oder Sinn, Affekt oder Intellekt, Sprache oder Bild, sondern sie verkörpert stets beides. Sie ist situiert zwischen zwei Seiten, die in ihr ein Verhältnis zueinander eingehen.2

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Doris Kolesch und Sybille Krämer bezeichnen die Stimme als “performatives Phänomen par excellence3, da diese mehrfache Anforderungen an den Wesenscharakter einer Performance erfüllt4:

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  • Ereignishaftigkeit: Im Augenblick der Aussprache ist die Stimme bereits wieder verschwunden und existiert nur in ihrer jeweiligen, absoluten Gegenwart, die dadurch bezeugt wird, dass sie von anderen gehört und somit wahrgenommen wird.

  • Aufführungscharakter: Die stimmliche Äußerung hat den Status einer Aufführung, da sich der Sprecher an jemand anderen richtet und sich damit in gewisser Weise dem Publikum, Zuhörer aussetzt.

  • Verkörperungscharakter: Der Stimme verleibt sich der Körper des Sprechers ein, sowohl sein sozialer, semiotischer, als auch der individuelle, sprich der „phänomenale Leib“. Stimme kann also Ausdruck beider Welten sein.

  • Subversions- und Transgressionspotential: Die Stimme transportiert nicht nur Sinn, sondern besitzt eine Eigendynamik, die der „semiotischen, medialen oder instrumentellen Dienstbarkeit“ zuwider handeln kann.

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Angeführte Merkmale zeigen sich im

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(…) Moment des Risses, da noch nichts gesagt ist, aber gesagt werden wird, wo sich der Laut als Einschnitt, der die Stille zerreißt, selbst ausstellt. Dann wäre die Stimme zunächst nichts, was sich primär mitteilen will: keine Bedeutung, kein Text; sie erscheint noch vor der Intention, dem vermeinten Sinn: Ihre Besonderheit verweist auf den Leib, auf die körperlichen Aktionen, die ihr erst Raum verleihen, Atem geben. Sie geht nicht primär in der Verlautbarung eines Gesagten auf, die sie auch ist; sie ist Vollzug: Schrei, Zuruf, einem anderen zusprechender oder von ihm vernommener Laut schließlich Flüstern, Murmeln, inwendiges Selbstgespräch, sogar Schweigen. D.h. Die Stimme drängt sich auf; sie gemahnt an eine Unausweichlichkeit, in der der Andere präsent wird: Anruf, der mich auffordert und mich zu sprechen nötigt, Antwort erbittet.5

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Stimme ist nicht nur lautliche Äußerung, eine Form von Kommunikation, sondern auch ein Phänomen für sich, „die Stimme klingt an, sie erklingt, klingt fort, verklingt und klingt nach, kurz: Sie stellt sich dar als ein Ereignis, als etwas, das geschieht.“6 Roland Barthes schreibt von der „Rauheit der Stimme“7 und meint damit jene Aspekte der Oralität, die sich nicht mit Sinn beladen lassen. Am Beispiel eines russischen Baß erläutert er:

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In der Kehle, dem Ort, wo das Lautmetall gehärtet und gestanzt wird, und im Gesichtsausdruck, bricht die Signifikanz auf. (…) Etwas ist da, unüberhörbar und eigensinnig (man hört nur es), was jenseits oder diesseits der Bedeutung der Wörter liegt, ihrer Form (…) etwas, was direkt der Körper des Sängers ist (…). Diese Stimme ist nicht persönlich: sie drückt nichts vom Sänger, von seiner Seele aus; sie ist nicht originell (…) und ist dennoch gleichzeitig individuell: Sie lässt einen Körper hören.8

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Die Stimme wird also nicht durch die Individualität des Sängers besonders, sondern verschafft diesem vielmehr durch sich selbst, durch die der Stimme eignen, unberechenbaren Eigenschaften, einen Körper.9 Rückt man die Stimme in eine derartige wesentliche Rolle, so muss sie selbst eher als eigener Körper gedacht werden, denn als Ereignischarakter eines Auftrittes: „wenn es ein Ereignis des Lautwerdens gibt, so ist es nicht von einem Was und einem Wer, von einem Objekt her zu denken, sondern als impersonales Geschehen, das Spuren hinterlässt wie ein Leuchtfeuer und erst in der Wiederholung Gestalt annimmt.“10

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Ähnliches beschreibt Eugenio Barba:

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Man muß seine eigene Stimme vergessen, nicht auf sie hören, sie nicht beurteilen. Vergiß deine eigene Stimme und strecke dich mit deinem ganzen Körper dem Anreiz entgegen und reagiere auf ihn. Dann lebt der Körper, die Stimme lebt, zuckt, vibriert wie eine Flamme, wie ein Sonnenstrahl, der von unserem Körper ausgeht und den Raum erleuchtet und wärmt. Von diesem bescheidenen Ausgangspunkt aus und durch jahrelange Arbeit kann eine eigene Stimm-Flora entstehen, deren Wurzeln in unserem Körper leben, unser Körper sind mit seiner Erfahrung und dem, wonach er strebt.11

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In Verbindung mit literarischer Performance erwähnenswert ist, dass die Stimme tatsächlich „körperliche“ Eigenschaften annimmt, in dem sie Raum ergreift, hinausragt und dadurch die Zuhörer berührt oder abstößt, jedenfalls eine Art von Reaktion hervorruft:

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Die Stimme nimmt als körperlicher Prozeß den gesamten Organismus in Anspruch und projiziert ihn in den Raum. Die Stimme ist eine Verlängerung des Körpers und gibt uns die Möglichkeit, auch auf Entfernung konkret einzugreifen. Wie eine unsichtbare Hand breitet sich unsere Stimme vom Körper her aus und handelt, und unser ganzer Körper lebt und nimmt an der Handlung teil. Der Körper ist der sichtbare Teil der Stimme, und man kann sehen, wie und wo die Impulse entstehen, die zu einem Ton und zur Sprache werden. Die Stimme ist Körper – unsichtbarer Körper -, der im Raum handelt. Es gibt keine Trennung, keine Dualität: Stimme und Körper. Es gibt nur Aktionen und Reaktionen, die unseren Körper in seiner Gesamtheit einbeziehen.12

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Wobei, wie Michael Lentz in seinem Standardwerk „Lautpoesie nach 1945“ in Bezug auf den Lautdichter Dick Higgins anmerkt, ein Denken von Gleichwertigkeit angebracht erscheint, da schließlich nicht nur eine Stimme, sondern auch eine Person auf der Bühne steht. Denn: Die Stimme ist nur ein Aspekt des Sprechaktes, der Körperlichkeit des Dichters / der Dichterin muss gleichsam eine wesentliche Wirkung zugesprochen werden, immerhin wird der Akteur nicht nur durch seine Stimme wahrgenommen, sondern auch durch Mimik, Gestik und ähnlichem.13

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Das Publikum ist daher fokussiert „auf Körperlichkeit und Präsens/z des nicht mehr nur mit seiner Stimme zu identifizierenden Akteurs; die vokale Performance bringt sozusagen ihren Ausführenden hervor, im Akt der Performance entstehen Lautpoesie und Autor/Interpret gleich ‚ursprünglich‘ (…)“14 Wie bereits festgehalten, ließen sich der Mimik demnach ähnliche Eigenschaften wie der Stimme zurechnen, wie auch der Körperlichkeit, bzw. jedem Teil der körperlichen Anwesenheit.

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Gerade in der Stimme lässt sich laut Mersch aber jene „Aura“ festmachen, die die Wirkung einer Performance bestimmt: „Die Stimme ist Klang; ihre Musikalität bestimmt ihre Wirkung jenseits aller Semantik, insofern sie wesentlich an den Leib gebunden er-scheint.“15 Auch Michel Serres denkt vom Laut, der am Anfang der Sprache liegt, in diese Richtung weiter:

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Es kommt vor, daß sich vom Lärm aus mit der Zeit eine Art Rhythmus herausbildet, quasiperiodische Bewegungen, etwas zufällig Wiederkehrendes. Ein Fluß steigt aus dem Meer, und aus dem Fluß steigt Venus; aus dem unregelmäßigen Plätschern erhebt sich ein rhythmisches Strömen, eine Musik. Auch das musikalische Vlies trägt sämtliche Bedeutungen, universell vor der Bedeutung (…)16

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Aus der Welt der Töne, der Geräusche, entsteigt die menschliche Sprache – wobei anzumerken ist, dass auch eine reine Lautäußerung Gefühle wie Zufriedenheit oder Ärger transportieren kann, und somit in gewisser Weise sprachlichen Konventionen folgt, bzw. im Sinne einer herkömmlichen Sprache agiert – ein Umstand, der im Folgenden näher zu begutachten ist, denn Tonfall, Tonlage, Zäsuren und Lautmelodien prägen den vorgetragenen Text ebenso wie der schriftliche Inhalt. Dies wird auch in den Überlegungen Merschs evident, der eine zu starke Trennung zwischen Sinn und Sinnlichkeit unternimmt:

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So gibt sich die Leiblichkeit des Leibes im Klang der Stimme, gewinnt eine vielfältige, in der Klassifikation durch Eigenschaften nicht zu fassende Präsenz: eine Ekstasis, die die Schrift provoziert, deren Kapriziösität sie gerade verdeckt. (…) Zuerst Ton oder Klang gründe sie [die Stimme, Anm. R.P.] vornehmlich in der Gebärde, der Bewegung, im Tanz, noch bevor sie Symbol, Bild oder Sinn werde.17

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Zu diskutieren bleibt, in welchem Ausmaß die menschliche Stimme abhängig ist von der Sprache (und umgekehrt). Eine Stimme, die „ursprünglich“ und gänzlich vor der Sprache liegt, daher autonom, rein sinnlich und frei von Konvention agiert, mutet als romantisierendes Ideal an, denn:

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Um eine Stimme (…) zu bekommen, muss der Mensch zur Sprache kommen. Dem Einsatz der eigenen Stimme geht das Hören der Stimmen anderer und ihrer Sprache(n) voraus, diese Laute und Klänge beeinflussen ihrerseits die stimmliche Artikulation, die Intonations- und Modulationsweisen, aber auch Sprechgeschwindigkeiten oder Lautstärken.18

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Ähnlich folgert auch Lentz „(…) daß ein Denken von (Sprach-) Klängen unabhängig eines ‚Trägermaterials‘ und ihrer (sprecherindividuellen) stimmlichen Realisation mit ihren sozialen, physischen, dialektalen etc. Merkmalen nicht vorausgesetzt werden kann.“19 Der Stimme eine universelle, gemeingültige „Ermächtigung zur Ekstase“ auszustellen, wie es Mersch unternimmt, ist demnach zu weit gegriffen. Erwähnenswert ist jedoch folgende Überlegung von Doris Kolesch, die zum Verhältnis von Stimme und Sprache ausführt, dass dieses

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im Kontext der bürgerlichen, literarisierten Vorstellung von Kunst und eines entsprechend literaturdominierten Theaters zumeist so verstanden, dass der sprachliche Sinn als vorgängig erachtet und die Stimme als nachgeordnetes, sekundäres Ausdrucksphänomen aufgefasst wurde.20

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Es mag die ewige Frage nach Henne oder Ei sein, die in einer solchen Wertung ihre Auswirkungen zeitigt: Sprache und somit Text stehen an erster Stelle, sind die Grundlage der Stimme, die als Medium fungiert, aber kein Eigenleben zuerkannt wird. Spätestens mit der Avantgardedichtung der Futuristen, Dadaisten und Surrealisten wurde diese Hierarchie verworfen, und nicht mehr Sinn oder Bedeutung, sondern Stimmklang und Körperlichkeit des Sprechens (d.h. das Atmen, Schreien, Flüstern etc.) in den Vordergrund gestellt.21

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1Lentz (2000a: 87)

2Kolesch, Krämer (2006: 12)

3Kolesch, Krämer (2006: 11)

4Vgl. ebd.

5Mersch (2002b: 116ff)

6Waldenfels, in: Kolesch, Krämer (2006: 195)

7Barthes (1990: 269)

8Barthes (1990: 271 – 273)

9Der Verweis auf einen Baß-Sänger mag nicht zufällig sein, der Ursprung der Sprache im Gesang, des Lautes im Ton wird von verschiedensten Autoren verortet, vgl. z.B. Friedrich Nietzsche „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne.“ in Riesl (2007)

10Waldenfels, in: Kolesch, Krämer (2006: 196)

11Barba (1984: 57)

12Barba (1984: 55)

13Vgl. Lentz (2000a: 87ff) obwohl sich in den angeführten Interviews niemand zu Schauspiel etc bekennt, also nicht zu einer dezidierten Arbeit mit dem Körper, auffällig z.B. im Interview mit Jaap Blonk, in: Lentz (2000b: 1057)

14Lentz (2000a: 87)

15Mersch (2002b: 112)

16Serres (1998: 158ff). Musik als Ursprung und weiterbestehender Schatten, der die Sprache begleitet und dieser eine poetische Aura verleiht, findet sich auch in folgendem Zitat: „Wer spricht, der singt unter der Sprache, Rhythmus der Zeit unter dem Gesang, er taucht in das Hintergrundrauschen unter seinem Rhythmus. Der Sinn zieht diesen langen Kometenschweif hinter sich her.“ (Serres: (1998: 159))

17Mersch (2002b: 113ff)

18Kolesch, in: Kolesch, Krämer (2006: 51ff)

19Lentz (2000a: 83)

20Kolesch, in: Kolesch, Krämer (2006: 52)

21Vgl. ebd.

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