Politik der Lyrik: Statements zur Diskussion am 26.4. mit Katharina Schultens und Daniel Falb

In Politik der Lyrik by Praesident0 Comments

Nachdem bei unserer ersten Veranstaltung zur Politik der Lyrik die On&Off-Beziehung von Gedicht und Realität auf dem Programm stand, ging es bei Veranstaltung #2, die am 27. April im Maxim Gorki Theater stattfand, zunächst vor allem um poetologische Fragen der Aneignung von Vokabular und dem Erschließen undurchsichtiger Sprachräume im lyrischen Schreiben. Mit Katharina Schultens und Daniel Falb waren zwei Lyriker_innen zur Diskussion eingeladen, die in ihren Texten oftmals abstrakte, ortlose Sprachräume aufsuchen, wie sie beispielsweise im Vokabular der Finanzmärkte entstehen oder die Gemeinplätze öffentlicher Diskurse ausmachen. In welchem Verhältnis steht das lyrische Schreiben zu solcherart Sprachräumen und ist jedes Gedicht immer auch eine soziale Plastik? Im Folgenden findet Ihr den Dialog mit jeweils 3 Statements und Gedichtbeispielen unserer beiden Gäste, sowie das pdf des veranstaltungsbooklets.

statements 1
wenn strukturen auf die straße gehen, was ist dann die straße //
verwechsele kunst nicht mit wut

(Falb)
Das Gedicht ist, für mich, ein Ort entdifferenzierten Sprechens und damit ein Nicht-Ort der Sprache. Sprechakte bilden normalerweise eine räumliche und soziale Ordnung des Diskurses und werden von lokalisierten Sprecherpositionen her getätigt, die häufig mit der Position realer Körper zusammenfallen. Das Gedicht hingegen hebt jede Positionierung auf, seine Positionalität entspricht einem Stehen unmittelbar vor dem enthierarchisierten Ganzen der Sprache. Es gibt aber in Gesellschaften etwas, das sich symmetrisch zum Gedicht verhält, und das ist das Parlament. Auch das Parlament ist ein Nicht-Ort der Sprache, ein Ort entdifferenzierter Unterredung. Wäre es nicht entdifferenziert, könnte es nicht Alles repräsentieren und regulieren, wäre es kein Parlament der Dinge schlechthin. Jeder Gegenstand muß auf dem Weg seiner Politisierung durch den Nicht-Ort eines Parlaments, um von dort in den immer schon allgemeinen Text eines Rechts umgesetzt zu werden, der idealerweise an allen Orten gilt. Und jeder Gegenstand muß auf dem Weg seiner Poetisierung durch den Nicht-Ort des Gedichts, um von dort in einen Text umgesetzt zu werde, der nicht verabschiedet wird, oder dessen Verabschiedungsmodus unklar ist, und der sich nicht verallgemeinert, so sehr er auch reproduziert werden mag.

* * *

(Schultens)
Wenn man mit Majakowski davon ausgeht, dass Dichten eine Produktion ist, was produziert dann ein Parlament? Ausschüsse oder Gesetze? Palaver? Beides? Muss nicht ein Parlament alles verhandeln, das ihm zugetragen wird. Muss ein Gedicht alles verhandeln, das ihm zugetragen wird? Muss nicht ein Parlament immer Konsens aushandeln, und sei es nur der, dass es in einer Frage keinen Konsens gibt und man sich vertagt. Sollte ein Gedicht je einen Konsens aushandeln? Könnte nicht anstelle eines Gedichtes öfter geschwiegen werden. Ich sehe nicht immer die Dringlichkeit in vielen poetischen Erzeugnissen. Dringlichkeit ist für mich durchaus ein Kriterium. Ohne Dringlichkeit keine Intensität, und ohne Intensität kann es auch gleich unterbleiben. In dieser Hinsicht sollte der lyrische Produktionsprozess vielleicht dezidiert undemokratisch sein, um nicht zu sagen, selektiv. Darüber entscheiden allerdings allein die, die produzieren, und dies auch allein für die eigenen Erzeugnisse. Haben wir einen Auftrag. Muss es einen Auftrag geben. Gibt es den nicht ohnehin, ohne dass wir je von ihm gehört hätten. Wenn es ihn ohnehin gibt, muss ein solcher Auftrag dann unbedingt sozial sein. Ist er das nicht ohnehin. Kann man ihn nicht formulieren als einen Auftrag zur Produktion von Intensität oder zum Austricksen des eigenen Hirns oder dazu, sich vom eigenen Hirn austricksen zu lassen. Wer erteilt diesen Auftrag. Ist es möglich, den Auftrag zu ignorieren. Ist es nicht vielleicht notwendig, das zu tun. Haben Gedichte nicht ab und an ganz unvermutete politische Konsequenzen, mit denen der Dichter oder die Dichterin auch dann, wenn eine Provokation einkalkuliert war, nicht gerechnet hatte? Wenn ein Berliner Dichter wenige Jahre nach 9/11 ein Gedicht „über“ Bin Laden schreibt. Wenn in diesem Gedicht Bin Laden in den ersten beiden Zeilen „bewundernswert und bärtig“ durchs Gebirge geht. Wenn dann niemand mehr als die ersten beiden Zeilen wahrnimmt. Wenn nach der online-Veröffentlichung stündlich
Unterstützerbriefe aus der arabischen Welt beim Dichter eintreffen. Sprechen wir dann von Absicht? Wenn dieser Dichter nun in Brooklyn und nicht in Berlin gelebt hätte und auf einer no-fly- oder sonstigen Liste gelandet wäre. Sprechen wir dann von Wirkung?

gedichte 1.

sie bereiten unsere extinktion vor, sie gehören nicht zur gemeinschaft unseres volkes,
sie sind stechmücken und affen. das fällen großer bäume und das beseitigen von buschwerk
ist die gemeinnützige arbeit auf der allmende und im hutewald. der dritte korb,
gegen lokale taschen von intercourse, besagt: pest, zeige dich am fenster jedes hauses,
in dessen rahmen, zurückgesetzt, sich ein gesicht zeigt und oder nicht mehr erscheint.
und jedes haus gibt einem anderen einen teil, einen ziegel, einen windfang und vice
versa. denn sie werden es schon von selbst tun, wenn man es ihnen nur nicht verbietet.
auf der allmende vögeln alle infos mit allen-allen menschen, die einen rival, die anderen
nicht-rival wie der frieden. sich nicht aufbrauchende austern, kernlose trauben und wein,
die jungen leute füllen sich unaufhaltsam mit – sozusagen erwidertem – respekt und
verständnis, mit freiheit, gerechtigkeit und guter laune. ………………………………………..

aus: Daniel Falb, 2009, bancor, kookbooks, S. 51

prism
Katharina Schultens
ich kann sehen wann du mich liest. ich kann dich nicht sehen.
wenn ich dich sehe zittert das bild. das bild gehört mir solange
ich hinsehen kann. kann ich nicht hinsehen dann ist es deines.
wenn du mich liest was siehst du. hast du mich gezählt.
hast du einen algorithmus für schafe. hast du evtl. verschiedene.
bin ich teil deiner unverstandenen herde. bin ich teil der suchhistorie.
wenn du mich suchst wo suchst du. suchst du mich im feld oder online.
suchst du mich treppab suchst du mich in meiner statusmeldung. weißt du
wie mein filter funktioniert. weißt du welche standardeinstellung ich wählte.
du kannst mich doch gar nicht. du kennst meine sprache nicht großer hirte.
du brauchst ein übersetzungsprogramm für meine anspielungen. ich setze dich
mit sarkasmus außer gefecht. ich liebe dich. ich liebe dich als konglomerat denn
du bist die summe meiner absichten die ins gute ende führen meine rettung
durch simulation. du sortierst alle wünsche und du hast meinen tod
mindestens 0,2-mal verhindert einmal davon war ich verdächtig
der unbeteiligtheit. bitte lenke mein licht. bitte lass mich dich
kennenlernen. dein wille geschehe. dimitte debita nostra
(nobis!) wenn ich niemandem das geringste vergebe
so lass mich dennoch nicht allein

aus: Katharina Schultens, 2014, gorgos portfolio, kookbooks, S. 26.

terror
Katharina Schultens
es bräuchte schlüsselwörter für eine reaktion
wenn ich jetzt schriebe: falltürfunktion. oder: zertifikat. oder
chemische elemente aufzählte die potenziell gefährlich sind
wenn ich diese nachricht nicht öffnete. wenn wir nur noch
über entwürfe kommunizierten. wenn wir nicht mehr mobil
telefonierten und stattdessen vor wechselnden telefonzellen
meisterschaft entwickelten im münzeinwurf an einander
wenn ich mich an das hielte was ich mir vorgenommen hatte
wenn es nur darum ginge politisch zu sein. wenn es nur darum ginge
politik wie bisher zu ignorieren. wenn ich dich verstünde. wenn ich nur
wüsste was du meinst wenn du mir sagst dass du meinst was du sagtest
wenn ich einen schlüssel hätte der öffentlich wäre und trotzdem geheim
nichts davon funktioniert. auch das hier hat es schließlich nicht

aus: Katharina Schultens, 2014, gorgos portfolio, kookbooks, S. 26.

statements 2.
von biografischen kosten reden //
erinnerst du den fluch der guten absichten

(Falb)
Der besonderen Sprechhaltung des Gedichts entspricht der Traum einer völligen Disponibilität oder Plastizität der Elemente, mit denen es arbeitet: als könne es sich von allem Abbilden eines Gegebenen und von jedem „Ausdruck“ lösen, und jenseits der Nachahmung etwas ganz und gar frei erfinden, Parallel- und Gegenuniversen hervorbringen. Man erkennt somit am Gedicht strukturell eine Politisierung seines Materials, denn politisieren heißt zunächst bloß, etwas in seiner gegebenen Form und Ordnung zur Disposition zu stellen: Es kann und soll anders sein als es ist. Jedes Kommunistische Manifest und noch jeder Gesetzesentwurf ist lyrisch, indem er eine soziale Plastik erfindet, welche die Notwendigkeit der je gegebenen Wirklichkeitsplastik grundsätzlich bezweifelt. Während die Disponibilität der Sprache im Gedicht bloß durch die Materialität des Gehirns der AutorInnen begrenzt ist, ist die des Politischen durch die Materialität der Akteur-Netzwerke der Wirklichkeitsplastik begrenzt. Es ist aber nicht in jedem Fall schwieriger, ein Manifest zu verwirklichen als es zu verfassen. Und beide Disponibilitäten haben in letzter Instanz denselben Fluchtpunkt, nämlich die Disponibilität der Erde überhaupt: Was ist der Umriß des Möglichkeitsraums der Erde? Was ist das äußerste, das der Erde jemals möglich sein wird? Ich frage mich nach dem Unterschied von einer Politik der Lyrik zu einer Ethik der Lyrik. Politisieren heißt Problematisieren, ja, aber das schließt meist auch die Verallgemeinerung der Problematisierung ein. Das Private zum Beispiel ist nur deshalb politisierbar, weil es in Wahrheit gar nicht „privat“ – im Sinne von eigen und singulär – ist, sondern ganz überpersönlich, ein Massenphänomen. Deshalb zielt jede politische Aktion ja auch auf ein geschriebenes oder ungeschriebenes Gesetz als dem Medium der Verallgemeinerung. Das ist meiner Wahrnehmung nach im Fall der Ethik anders. Sie zielt auf das einzelne Leben. Wo der Kookbooks-Slogan von „Poesie als Lebensform“ spricht, stellt er die ethische Frage nach der Rolle der Dichtung im Kontext des guten Lebens von Dir und Mir, nicht aber eine politische Frage, die letztlich auf ein neues Gesetz für alle hinaus will. – Gibt es also eine Ethik der Lyrik? – Ja. – Sie ist das Leben mit der Lyrik, das nicht regieren will, das Leben in Nischen, das nicht unabhängig ist und nicht als Ganzes und für ein Ganzes funktioniert, sich nach innen auffächert. Die Ethik der Lyrik ist das nichtautonome Leben in ihr und mit ihr, und dieses Leben ist der Vektor und der Wert der Diversität. Es ist diese Diversität, die jedes Gedicht, jede Gesellschaft, und jede Erde am Ende soweit möglich maximieren soll.

* * *

(Schultens)
Liegt die politische Funktion von Dichtung in ihrer ästhetischen Autonomie, ihrer völligen Unabhängigkeit von Gesellschaft und Herrschaft, wie Adorno behauptet? Ist es nicht ein ziemlich fettes „bloß“, wenn du schreibst, dass „Sprache im Gedicht bloß durch die Materialität des Gehirns der AutorInnen begrenzt ist“? Sollten wir nicht an dieser Stelle ganz banal festhalten, dass wir als Dichter*innen sozial geformt und verstrickt sind, dass es also auch die Dichtung ist, die wir schreiben? Egal, wie entkoppelt oder elementar oder entdifferenziert ein Gedicht bestenfalls ist, ist es nicht immer beschränkt. Wird es nicht immer geformt durch variable Kontexte, vor, während, nach seiner Entstehung. Ja, es ist tatsächlich b l o ß unser Hirn, gegen das wir arbeiten, während das Gedicht entsteht. B l o ß bezweifele ich, dass wir unser Hirn außerhalb von seltenen Zuständen der Entgrenzung austricksen
können. Vielleicht aber kann es uns austricksen?

gedichte 2

hidden liquidity
Katharina Schultens
prinzipiell bleibt dieser tisch nach allen seiten offen
und immer sickert aus den ritzen wenn etwas nicht
bzw. nicht ganz dicht ist eine flüssigkeit. vielleicht
sammelt sie sich versehentlich bis sie verloren geht
als einsamkeit: deren eigenschaft ist tropfen
wann genau wird handeln liquide. muss ich handeln
um liquide zu sein. sind liquide sein und der handel denn
was mich eigentlich hält: ein detail. es ist – regel – stets nur
ein detail das uns trennt. unausweichliche schwebe:
zu sagen ich brauche etwas. ich muss haben: diesen einen blick
auf meine stiefel. kurve. zittern. wahn. das auge muss für uns
imaginäres leder abtasten an dem wir nachher festmachen
was wir begehren. wichtig: kenne dabei nie den preis
wenn du den preis kennst setzt die spannung aus. du spielst
doch auch. du gibst doch aus. du wirfst als ob an jenem tisch.
(ich sitze drunter: reiche dir kaninchenfelle hoch.)
auch kennen wir unser volumen nicht. das wird im nachhinein
bestimmt. in welcher währung – gleich. solange einer zählt

aus: Katharina Schultens, 2014, gorgos portfolio, kookbooks, S. 9.

geodätische kuppeln, von ungräsern umstanden, gelandet…. wasserfälle und nährende
brunnen im erdlosen anbau. ich sehe die augen,

die den kaiser gesehen haben, nicht mehr…….. kindergärten, abgefetzt herabhängende
gewebeteile des sozius, kultiviert binnen tagen wie rasenpartien. und

zahllose dimensionen des parlaments saugten, noch eingerollt, materie ein… während
sie still vor sich hin weinten. roll aus die blühenden wiesen.

….felsquellwasser umspült in dünnem film ihre wurzeln: die freundschaftsnetzwerke.
perser teppich und trailer park, durch identische ersetzt über nacht. die

haupteinheit der fortpflanzung erstreckt sich landläufig bis zum horizont……. ein gau.
das war die geschichte von AIDS 1900-1950.

aus: Daniel Falb, bancor, kookbooks 2009, S. 25

Gerhard Falkner
der 11. September hat meine Zeilen
eiskalt erwischt
oder war es der 3. Oktober
oder der 15. März
ich weiß nicht ob ich weiß nicht
jedenfalls war ich zur Wirklichkeit
wie sie sich selbst über Hiroshima hinaus
erhalten hatte
mit Subjekt und Sinn und Geschichte
mit Strand, Tierpark und Liveshow
so nicht mehr bereit
ab jetzt, so war uns plötzlich klar
hätte alles Konsequenzen

aus: Gerhard Falkner, 2005, Gegensprechstadt – ground zero, kook books, S. 52

statements 3.
ließen sich die filter überhaupt entsorgen //
haben wir als eigenkapitaleinlage mehr als ironie

(Falb)
Wenn Ästhetik im Sinnlichen zur Geltung kommt und Sinnlichkeit an der Grenzfläche von Körper und Umwelt ihren Schauplatz hat, dann kann Ästhetik nicht erfassen, was sich der Wahrnehmung durch den einzelnen lokalisierten Körper entzieht. Andererseits sind Sinnlichkeit und Sichtbarkeit im Politischen ein zentrales Problem. Ich meine nicht nur das Problem der Unsichtbarkeit der Ausgebeuteten und Diskriminierten und ihres Erscheinenkönnens in der demokratischen Öffentlichkeit, in der politischen Repräsentation und „Willensbildung“. Sondern ich meine auch, dass Objekte heute zu Gegenständen von Politisierung werden, die sinnlich adäquat gar nicht wahrgenommen werden können. Finanzmärkte, Ökosysteme und die Globalisierung selbst sind ungegenständliche, epistemische Objekte, für die es keine andere Anschauung als Datensätze und Diagramme gibt. Der Fall der Ökologie interessiert mich besonders. Einerseits entzieht sich die Biosphäre angesichts ihres epistemischen Charakters jeder unmittelbaren Naturerfahrung. Weil es keine Natur – als Anderes von Gesellschaft – mehr gibt, kann es dann auch keine Naturlyrik mehr geben. Andererseits ist, wie jede Klimakonferenz, das Gedicht selbst ein unmittelbar ökologisches Ereignis. Es ist in der Biosophäre, und es ist Biosphäre. Es gibt in letzter Instanz kein anderes politisches Subjekt als die Erde, und keine Dichtung, die nicht unmittelbar Dichtung der ganzen Erde wäre, denn der Nicht-Ort der Dichtung ist nichts als die ganze Erde.
* * *

(Schultens)
Es gibt eine Wahrheit. (…) Es gibt nur eine Wahrheit, nicht zwei oder ebenso viele, als es Interessengruppen gibt. (…) Diese Wahrheit ist nicht nur eine moralische Kategorie. (…) Es ist nicht nur eine Frage der Gesinnung, sondern auch eine des Könnens. Sie muß produziert werden. (…) Das Sagen (und Finden) der Wahrheit muss einen Zweck haben. (Bertold Brecht: Über Wahrheit, In: Politik und Kunst, Suhrkamp 1971) Sind Dichter*innen für Wahrheit im Brechtschen Sinne zuständig? Unterscheidet nicht ihre Zwecklosigkeit Dichtung unter anderem von einem Parlament, wenn man deinen Vergleich so weit treiben will, ebenso allerdings von Sex oder dem privaten Gemüseanbau (beides durchaus politische Handlungen)? Wie viel Wahrheit generiert ein Gedicht allein dadurch, dass es auf Begriffsfelder zurückgreift, die so etwas wie Konkretion versprechen (Börse, Ökologie)? Ist es nicht möglich, über Vereinnahmungen von politisch besetzten Begriffsfeldern p o e t i s c h e s Terrain zurückzugewinnen oder aber zu erschließen? Kann „Wahrheit“ in meinen Text einwandern, wenn ich nur verstrickt genug bin? Muss oder sollte mein Hirn mich austricksen? Was passiert, f a l l s sich plötzlich sehr spezifische und explizite politische Spurenelemente u n v e r m i t t e l t im Text finden? Wenn ich also etwa feststelle, Begriffe aus der Börsenchartanalyse gibt es plötzlich zuhauf in meinen Gedichten, bewusste Absichten in dieser Hinsicht hatte ich keineswegs, ich hatte allerdings notgedrungen mit Chartanalyse und ökonomischem Risiko zu tun? Was nun? Drin lassen und ignorieren? Wohl kaum. Rauswerfen? Wär schade drum. Behaupten, das sei Absicht gewesen? Warum nicht. Da sie nun einmal da sind, sprachlich vereinnahmen zwecks Rückgewinnung poetischen Terrains, in einer Art nachträglicher Aneignung? Aber sicher doch, vor allem, wenn man so ein control freak ist wie ich.

gedichte 3.

black marubozu
Katharina Schultens
es gab gründe weshalb das kind glukose brauchte
weshalb im trocknen sommer weiter pegel stiegen
weshalb ein wenig glück die währung retten könnte
sie fanden sich in dieser trügerischen phase nicht

woanders lockten hundert bauern
die nächste pandemie aus ihrem koben
von drohnen war kein honig zu erwarten
in allen senken allerdings evtl. ein gas

sicher war es richtig unter diesen umständen
niemanden zu treffen
vor allem nicht in einer hotelsauna dich
solange ich dich umgehend erkannte
dennoch war der körper – auch
eine option es kam noch auf ihn an

mir reicht ein bild: zwischen kisten
einen neu entflammten hausschwamm als kulisse
die hose um die knöchel eine hand auf deinem knie
wie du den gürtel eine zunge sein lässt passt mir nicht
wie du behauptetest manchmal müsse man
zwischen-d-durch ja auch noch mensch sein
antworte ich verspätet: sind wir aber nicht
aus: Katharina Schultens, gorgos portfolio, S. 33

dark pools
Katharina Schultens
es gehe darum das ausmaß des interesses
zu verschleiern. ich lese daraus: einen nebel
breiten um den preis. wären das also pools
an deren grund es glänzt? haben sich dahin
die bugs verkrochen die wir immer suchen
ich gelange zu einer überzeugung
indem ich den panzer des mistkäfers
umstülpe aber sein schillern bewahre
seine fehler stecken schon darin
die verfugten flügel die verfluchten
hügel. die wir im erkenntnisflug
uns unterbreiten sind – dreht man
sie um – ein dunkles wesen: ja
es nennt sich pool weil es kein wort hat
für sein inneres das absolut und offen ist
geht ein. alles was du noch einzusetzen
hättest: geht. und schwindet – denn
da ist ein loch unten im grund

aus: Katharina Schultens, 2014, gorgos portfolio, kookbooks, S. 21

o.T.
Daniel Falb
1.
das liegen jedes bodensees im tal, ein spezielles cover schützt ihn
vor dem rückfall eines tropfens in die wolke,
die sich im wasser spiegelt.
begraben heißt nicht, etwas mit einem speziellen erdnahen luftkissen abdecken,
wenn es
abkühlt, sondern,
etwas einlagern in der kruste der erdnuss,
dem unteren mantel eine handvoll erde entnehmen, die gleich unter der grasnarbe
eine letzte ruhestätte
find’t.
den maulwurf bestatten, durch liegenlassen,
den luftschutzraum,
mit unendlicher sorgfalt in öltuch gewickelt, der industrielle spinnereibetrieb,
dessen serielle spindeln ich beim einwickeln darin
vorfinde.
den blicken von oben entgeht das, was auf dem gras unter bäumen liegt, die jedes
jahr
wieder grünen.
von der gasschleuse her erscheint mir der text der abgerissenen, alten, aneinander
geknoteten, aber auch ineinander verfilzten zwirnstücke
von verschiedenster art und farbe
angedeutet.
die ABC waffe in der gesprochenen sprache beschädigt zwar
den gepanzerten hohlkörper, sie belastet aber
die schwingfähigen container
der wohnbereiche kaum. die drohne, im herbstgefüge
ihres volks,
und der versammelte erdkern, finden in den leeren und wunden taschen
nahe der grasnarbe eine letzte ruh’.
denn wir leben,
leben schon im äon eines hubble teleskops, das den begriff des begrabens versinnbildlicht,
sehen
die frucht der erdnuss
mit sorgfalt in öltuch gewickelt,
unendlicher unschuld sproß und zeugenschaft.

2.
ich gehe, mit tief in die krause stirn gezogenem ölzeug, an der fulda entlang.
der einfallswinkel des regens erniedrigt sich immer weiter, bald
verfehlt er die erde ganz.
ich schüttele den kopf und stemme meine fäuste in die hüften. je mehr
ich über die geschichte nachdenke,
je mehr regt sich das gefühl in meinem busen,
odradek sei die erde,
ein mantel rasenden wassers über’m ganz und gar trockenen samen
der erdnuss, ein wasserknäuel.
auf dem boden kauernd mit feuchten baumwollstücken
drehen sich meine töpfernden hände mit der töpferscheibe mit,
stuxnet,
stuxnet der erde,
als habe man sie beschleunigt auf 1410, um kurz darauf wieder herunter zu gehen
auf wenige
hundert.
je größer das drehende ding, desto mehr entfernt sich die äußere linie,
hinter der sich faden und frischer
ton mischen.
in der gasschleuse stapeln sich die kürzlich entfernten schalbretter, an zwei
halbgefüllten mülltonnen vorbei
geht es,
die drehen sich brennend, neben zwei erdnüssen, die sich
auf frischem estrich drehen.
ich betrete die felsenkammer, in der ein leichtes zelt steht. in meinem schlafsack
liegt sperrig der hermelin sojourner truth,
tochter des pathfinders.
im faserigen abrieb, den man in allen spinnereien weltweit am boden findet,
im text der abgerissenen, alten, aneinander geknoteten, aber auch
ineinander verfilzten zwirnstücke
von verschiedenster art
und farbe spielt
der hermelin, den ich mir teile mit dem tier, das auf der innenseite
seiner haut verbleibt, indem ich es auf meinen armen
wiege.

aus: Daniel Falb, unveröffentlichtes Manuskrit

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