Michael Braun (*1958) lebt in Heidelberg. Bekannt ist er vor allem für seine Arbeit als Herausgeber von Anthologien sowie als einer der wichtigsten Literaturkritiker für mittlerweile mehrere Kohorten deutschsprachiger Gegenwartslyriker_innen. Am 5.12.13 war Michael Braun als Moderator für Babelsprech.live in die Literaturwerkstatt Berlin gekommen. Folgend die einleitenden Worte zur kommenden Gegenwartslyrik, die Braun vor Beginn der Lesungen von Jan Skudlarek, Anja Kampmann, Martin Fritz und Simone Lappert verlas.
Über die Schöpfungshöhe einiger Gedichte aus der „Babelsprech“-Sphäre. Anlässlich einer Lesung in der „Literaturwerkstatt“
Jede Epoche hat ihre „querelle des Anciens et des Modernes“, jedes Zeitalter, auch das digitale, hat seinen Grundsatzstreit über die neuen literarischen Paradigmen, die von der jüngsten Dichtergeneration auf die Tagesordnung gesetzt werden. Auf der Tagesordnung des „Babelsprech“-Projekts, das wir hier in Berlin diskutieren, stehen offenbar die Fachsprachen der neuen Kommunikationsformen.
So etwa in diesen Gedichtzeilen des Berliner Lyrikers Jan Skudlarek (Jg. 1986):
„wenn du nicht sprichst, sind deine lippen offline.
könnte man zumindest meinen. systemneustart.
diese ganze gegend müsste neu gebootet werden.“
Und das ist etwas, was die junge Poesie des 21. Jahrhunderts versucht: Die ganze Sprach-„Gegend“ der poetischen Tradition „müsste neu gebootet werden“. Und man liegt nicht falsch, wenn man diesen „Systemneustart“ der Poesie mit den Veränderungen der Wahrnehmung im „wireless age“, im kabellosen Zeitalter, in Zusammenhang bringt.
„Diese ganze gegend müsste neu gebootet werden“: Man hört die Vokabularien des digitalen Zeitalters in den Gedichten von Jan Skudlarek und den Texten des in Innsbruck lebenden Popkultur-Theoretikers und Dichters Martin Fritz (Jg. 1982).
Einerseits.
Andererseits sind sie immer noch da, die Schlüsselwörter der klassisch-romantischen Poesie, die Wörter mit einer lyrischen Aura, Wörter wie „Wasser“, „Gras“, Wind“, „Sonne“ oder „Schnee“. „wir haben tauwetter für die helleren stunden“ oder „vielleicht die sonne auf einem frühnebelfeld“: So beginnen zwei Gedichte der Leipziger Autorin Anja Kampmann (Jg. 1983).
Es sind ganz unterschiedliche Tonlagen, Sprachgesten und Stimmfärbungen, die wir beim „Babelsprech“-Projekt vernehmen können.
Als die Literaturzeitschrift „Akzente“ im heißen Sommer 1967 ein Dutzend junge Schriftsteller mit der rhetorischen Frage konfrontierte: „Die Jungen – haben sie >einfach nichts zu sagen Und er war möglicherweise an einem SDS-Manifest beteiligt, in der die vier Grundelemente der politischen und ästhetischen Rebellion benannte wurden: „Nur Imagination, Ausdruck, Unorthodoxie, Wagnis kann sie (– gemeint ist die Revolte – ) retten!“
Und obwohl sich die Jungen des 21. Jahrhunderts weit entfernt haben von den Maximen der linken ästhetischen Subkultur der 1960er Jahre, so sind doch diese poetischen Elemente die Ingredienzien einer aufregenden, innovativen Poesie geblieben: „Imagination, Ausdruck, Unorthodoxie, Wagnis“!
Die Jungen – sie haben etwas zu sagen, indem sie unsere Sageweisen und Redeweisen untersuchen und dabei auch die medientechnischen Bedingungen und unsere Aufschreibesysteme thematisieren. Martin Fritz etwa befasst sich in seinem Debütband „intrinsische süßigkeit“ viel mit den digitalen Bewusstseinspfaden: „schöpfungshöhe entsteht am plasmaoid“, heißt es in einem seiner Gedichte, „schöpfungshöhe entsteht am plasmaoid / der plasmaoberfläche des kde 4.2.“.
Die „Schöpfungshöhe“ unserer zeitgenössischen Gedichte entsteht aus einem medientechnisch durchtrainierten Bewusstsein. „ich bildschirme, du bildschirmst“, heißt ein Gedicht von Jan Skudlarek. Bei Skudlarek klirren nicht mehr – wie bei Hölderlin – im Winde die Fahnen, stattdessen heißt es: „im winde wehen / die sytemadministratoren.“
Um den Weg in ein neues Sprechen zu finden, muss man aber auch die Eigenheiten des Schweigens kennen. Wie die Gedichte von Anja Kampmann, die ihre Musikalität dadurch gewinnen, dass sie nicht nur die Wörter, sondern auch die Stille dazwischen in eine poetische Ordnung bringen. Und manchmal bleibt der poetischen Wahrnehmung – gerade wegen des medientechnisch induzierten Lärms – nur noch der Rückzug auf das Leise: „es ist nur noch ein leises da“, schreibt die Schweizerin Simone Lappert (Jg.1985).
Anja Kampmann und Simon Lappert, Martin Fritz und Jan Skudlarek: Das Laute und das Leise,Hart Gefügtes und weich Montiertes, die „elektrosexuelle nähmanischen“ wie die „schneegeschwindigkeit“: Es ist alles da, die Jungen, sie haben etwas zu sagen – und gleich hören wir mehr davon.
Berlin, 5.12.2013