Lyrische Unzurechnungsfähigkeit – Antwort an Linus und Max

In Politik der Lyrik by Praesident1 Comment

Lyrische Unzurechnungsfähigkeit / Antwort an Linus und Max
Charlotte Warsen

Bisher ist ‚Lyrik‘ in dieser Diskussion (s. hier und hier) geschickt von anderen Begriffen umstellt und verstellt worden. Ich lege einige dieser Begriffe zurück in den Schrank und nehme stattdessen die Begriffe Lyrik, Kunst und einige Fragen mit.

Sowohl Linus als auch Max stellen die Frage nach dem Verhältnis von Politik und Lyrik in Hinblick auf letztere unverbindlich. Sie fragen allgemein nach einer auf jeweils unterschiedliche Art definierten Politik (als Aneignung, Vermehrung der Seinsweisen und Handlungsfähigkeiten bei Linus, bei Max als zunächst vor allem der (Selbst)Kritik / der Vergangenheitsreflexion bedürftige und ihr zeitlich immer nachgeschaltete Form kollektiver Praxis) und einer vagen Vorstellung von Kunst im Allgemeinen: Als institutionell oder begrifflich geschnürtem Bündel sehr vielgestaltiger, durchmischter Tätigkeitsformen und Objekte, die entweder einen politischen Sonderforschungsbereich bilden, eine politische Alternativbegabung darstellen, eine therapeutische Agenda verfolgen oder in besonderer Weise politisch verdächtig und selbst der Analyse bedürftig sind, aber kaum begrifflicher Bestimmung bedürfen. In Linus‘ Fall steht die Frage nach einer Emanzipation „nach vorne“ im Vordergrund, während es Max um die geschichtliche Bedingtheit u.a. eines solchen politischen „Begehrens“ geht. Wobei die jeweiligen Vokabulare (Aneignung, Felder, Handlungsfähigkeit / Subjekt, Macht, Begehren, Kritik, Symptom) aus ganz bestimmten Ecken zu kommen scheinen, die Selbstkritik aber nicht so weit gehen mag, sie offen zu legen.

Während die utopische politische Theorie ihre bisherigen Misserfolge verschweigt, keine selbstkritischen Umwege machen, geschweige denn Trauerarbeit leisten will, verheimlicht die Kritik trotz vermeintlicher Enthaltung, dass auch sie eine verkappte Utopie ist, dass sie insgeheim Pläne hat (mindestens eine leise Vorstellung davon, wie es besser laufen könnte) und von einem Unbehagen (im Falle der Erfahrungen anderer) oder einem Leiden (im Falle der eigenen Erfahrung) geweckt wurde, das ihr nicht eigen war und sich vermutlich nicht zuallererst in geisteswissenschaftlichen Texten (in denen Begriffe wie Subjekt, Begehren, Macht eine Rolle spielen) artikuliert und selbst reflektiert hat. Bevor eine solche Kritik (andere) sensibel machen will für die historische Herkunft und Kontingenz ihrer Überzeugungen und Erfahrungen, muss es einen selbst empfundenen Schmerz, eine Demütigung, Empfindlichkeit oder Irritation als Anlass gegeben haben und eine vorbegriffliche Artikulation dessen, woran Kritik geübt werden soll. Wenn alle Emanzipationsbewegungen der Moderne ihrer eigenen Verstricktheit in die Systeme der Macht zunächst bis in alle Verästelungen nachgespürt und ihrer kritischen Durchdringung geharrt hätten, wäre wohl niemand je auf die Straße gegangen oder hätte schreibend einen Anfang gemacht. Menschen entkommen ihren sozialen und geschichtlichen Prägungen und Identitäten glücklicherweise auch ohne sie vorher diskursiv erschlossen zu haben, weil sie immer schon mehr sind und waren als diese. Die Kritik wird nie pünktlich fertig, die Utopie kommt immer zu spät, aber „der Mensch übersteigt unendlich den Menschen“ (Pascal).

Akademisch-kritische Intelligenz spielt weder eine unwichtige noch eine herausragende Rolle in politischen Prozessen; neben der Einsicht in Genealogien und Kontingenzen der Macht sind ihr nicht naturgemäß geschichtliche Sensibilität, Innehalten angesichts der Ermordeten, Einfühlung in Andere oder Ehrlichkeit gegenüber eigener Grausamkeit, Machtanspruch und Tendenz zur Bevormundung eigen. Max bemerkt aber zu recht, dass Politik und Befreiung oft geschichtsleer gedacht werden. Es ist nicht immer Zufall, wenn gerade weiße, männliche, mitteleuropäische Akademiker den Ästhetizismus hochhalten. Oder sich, wie Linus beschrieb, besonders sendungsbewusst geben, weil sie am wenigsten zu verlieren haben. Oder die Kinder des Kapitalismus ein unbefangen-fröhliches Verhältnis zum Kommunismus pflegen. Da vielen politischen Theorien ein utopisches Streben (wenn nicht unbedingt das unverhohlene Bedürfnis nach „Heilung“) eingeschrieben ist, braucht es die Kritik als Sichtung und Analyse der Verhältnisse, Sensibilisierung/Störung, Emanzipation in die Vergangenheit und als Verweigerung / Verzicht auf schnellen Trost. Es bleibt aber die Frage, auf welche Weise zunächst die Sprache erschaffen und wie die Haltung, Legitimation und Position generiert werden können, in der dies überhaupt möglich ist. Zudem schlägt Max eine Form der Kritik vor (die Psychoanalyse des Begehrens), die zwar sehr gut mit dem deutschen Intellektuellenverständnis einhergeht, aber selbst eine problematische Machtbeziehung enthält. Außerdem verdeckt sie den Blick auf andere kritische Äußerungsformen (Übertreibung, Humor, Satire, Parodie, Entzug, Formen des Schweigens, der Passivität, Beharren auf einem möglichen Selbstzweck der Sprache, Zartheit trotz herrschender Gewalt, Lärm), die größeren Respekt vor der Eigenmacht der Sprache erfordern und eher im künstlerischen Bereich angesiedelt sind. Für viele Erfahrungen der Beschämung gibt es keine volltönenden und kritischen Aussagesätze, aber es gibt sehr machtvolle lyrische Weisen, das eigene Schweigen und die Zurichtung der Sprache auszustellen.

Bei Linus scheint durch, dass im Gegensatz zum eingängigen Befehl die Lyrik eine aufgeraute Sprache darstellt, eher spröde oder vielstrahlig als auf Vereindeutigung abzielend. Sie ist zunächst eher eine ästhetische Haltung gegenüber der Sprache als ein Idiom oder der absichtsgeleitete Ausdruck eines Subjekts: Eine lyrische Intentionalität und Suchbewegung anstatt einer äußeren Absicht oder eines äußeren Begehrens, die sich der Sprache als Werkzeug oder Ventil bedienen. Eher ein spezifischer Modus des Schreibens/Sprechens, der allen zugänglich ist, als eine kanonisierbare Sammlung an Texten, die von wenigen überwacht werden kann. Ein Umgang und Hantieren mit den Eigenlogiken des Sprachmaterials und des Schreibens selbst, in dessen Prozess etwas zur Erscheinung kommen kann und erfahren wird, was sonst versiegelt bliebe, was nicht zu vernehmen wäre, was sich, im Falle der Lyrik, nicht in gerade Aussagesätze / in eine schlüssige Erzählung / in einen historischen Abriss bequemen kann. Und was auch für diejenigen, die schreiben, nicht gänzlich absehbar war und über sie hinaus geht. Obwohl sich auch viele sprachliche Unbeherrschtheiten denken lassen, die nicht lyrisch sind: Das lyrische Schreiben entkommt, ab und zu, unserer individuellen Beschränktheit, ohne damit gleich ein unbewusster Wurmfortsatz der „Macht“ zu werden.

Max hingegen fragt sich zunächst, inwiefern bei einer derartigen Zusammenbringung von Politik und Lyrik nicht der Wunsch die Eltern des Gedankens sind. Wir schreiben Lyrik und verstehen uns als politisch? Da muss es doch eine Verbindung geben…wir sind deutsch und dichten und denken gerne gen Zukunft? Kein Wunder. Lyrik als kritische Praxis müsste in seinen Augen das gesellschaftlich Verdrängte ans Tageslicht holen und den eigenen Symptomcharakter auf dem Schirm behalten, hätte also eine ausgeweitete Therapiefunktion. Allerdings lässt sich gesellschaftlich Verdrängtes erfahrungsgemäß mindestens ebensogut mit einer Sprache ans Licht holen, die nicht mit dieser hehren Mission unterwegs ist, sondern asozial und apathisch umherzieht und ihrer Selbstreflexion nur mal durch Zufall des Nachts begegnet. An bestimmten Substantiven den Verzicht zu üben, damit ist es sicher nicht getan. Und auch nicht damit, sich bestimmter Themen bewusst und kritisch anzunehmen. Der Vorteil vagabundierenden Sprechens und Schreibens ist es, nicht in Begriffen oder Substantiven bereits „Vorliegendes“ zu benennen, sondern Denken und Erfahrung oder ihre Unzugänglichkeit / Unzulänglichkeit in Bild, Ton, Gestus, Geräuschen und Rhythmus durch alle Ebenen des Sprachlichen zu schicken, im Hantieren mit der Sprache zu erzeugen, zu fassen zu kriegen oder wirr zu vervielfältigen, dabei (ab und zu) neue Eigentümlichkeiten und Schärfen herauszubilden und (ab und zu) den Raum des Sag- und Denkbaren zu verändern oder zu erweitern. Ein – auf strittige und poröse Weise – vom alltäglichen Sprechen abgetrennter Bereich, in den auch unliebsame Tatsächlichkeiten (Hass, Grausamkeit, die Lust, zu quälen oder zu beschämen) Eingang finden können, ohne kritisch eingehegt und damit ihrer Unerträglichkeit beraubt zu werden. Das hat weniger mit Katharsis als mit Erkenntnis zu tun. Wenn Lyrik sich in einem kritisch-überlegenen Abstand gefällt, dessen Urteil vor dem Schreiben feststeht, werden alle Ungeheuerlichkeiten im vorhinein den anderen untergeschoben, der Sprache ihre Eigenlogik und den Lesenden eine lyrische Haltung (die ihre oft ganz eigenen Texte generiert) abgesprochen. Es ist daher ebenso Symptom, Lyrik eine ähnlich geartete Metareflexion wie den Schreibenden selbst abzuverlangen oder ihr andererseits nur die Pflasterfunktion auf einem Marsch Richtung große Gesundheit zuzugestehen. Lyrik leistungsorientiert.

Wenn Linus also den Möglichkeitsraum des lyrischen Schreibens zu bestimmen sucht, kann kritisch angemerkt werden, dass dieser umkämpft ist und nicht allen offen steht; und dass sich auch in ihm gesellschaftliche Machtstrukturen und Verdrängungsmechanismen fortsetzen. Eine solche Kritik muss sich aber ebenso fragen, inwiefern sie in der Beurteilung und dem Zu-trauen der jeweiligen Schreib- und Reflexionsbefähigung selbst eine Türsteherhaltung einnimmt und ihren eigenen sprachlichen Möglichkeitsraum erst durch bestimmte Schreibformen und die Erfahrung mit Kunst, zum Beispiel Lyrik, erschließen konnte.

Das hört sich alles ein wenig nach der Frage an, ob man Hühner oder Eier mag (Utopie ist kritisch motiviert, die Kritik hat einen utopischen Kern). Soll Lyrik heilen und Risse kitten, Selbstdiagnose betreiben oder die Wunden zeigen und klaffen lassen? Soll Lyrik böse sein? Uns glücklich machen? Inwiefern sind lyrische Formen immer schon (von der Vergangenheit, von einer Herrschaftssprache) angetastet und korrumpiert / inwiefern übersteigen sie diese, greifen sie an? Können auf kleinstem Raum (auf den winzigkleinsten Feldern) nicht die intensivsten Sprachen entstehen, die ihre Feldchen und Kapseln auf allen erdenklichen Wegen verlassen? Bilden sie einen Widerstand gegen Vermassung und Marktgeschrei oder bieten sie Subjektivierungsweisen, die einzelne Individuen überschreiten? Welche außerlyrischen Geschehnisse der Ohnmacht und der Freiheit (auch der Vergangenheit), die unzugänglich scheinen oder schlicht unwahrnehmbar sind, werden durch Lyrik ansprechbar / wahrnehmbar? Ist der lyrische Seismograph noch im Keller oder ist es eine Frechheit, Kunst lediglich als Hypersensibelchen und soziales Frühwarnsystem aufzufassen?

Es gibt jedenfalls (politisch) gute Gründe, utopische, kritische oder sonstwie normative Ansprüche an das lyrische Schreiben herunterzufahren und auf dem Selbstzweck der Kunst zu köcheln. Einen dialektischen Pseudo-Ästhetizismus und zwecklosen Widerstand anzunehmen (die gesellschaftliche Funktion der Kunst ist, dass sie (fast) keine hat). Oder, mit Linus: eine über sich selbst hinausweisende Autonomie. Das gibt es ja manchmal sogar fast bei Brecht: wenn wir ein Gedicht über den Regen lesen, hat sich gesellschaftlich vermutlich nichts getan, aber vielleicht sind wir ein wenig empfindsamere Menschen geworden. Oder bei Hilde Domin: das Gedicht als Ort / als Moment der Freiheit, das uns mit der Frische unserer Empfindungen verbindet. Und diese (zaghaft politischen) Positionen unterscheiden sich zB von Adorno (und von einem anderen Brecht) erheblich, indem sie nicht masochistisch oder didaktisch sind, ihren Anfang nicht in Schmerz, Kritik, Verweigerung oder Leiden an Gesellschaft nehmen, sondern in, nun ja (es ist womöglich bezeichnend für Adornos Einfluss, dass hier spontan die Anführungsstriche jucken), Schönheit, Hoffnung, Berührung, Sprachlust, Sinn, Witz, Trost, Schutz, sprachlicher Ausdifferenzierung. Denn dass sich eine auf Funktionalität verengte Sprache auf politisch verheerende Weise in die gesellschaftliche Entwicklung einschreiben kann, dazu hat es bereits einiges an wissenschaftlicher und lyrischer Anamnese gegeben, aus der wir lernen können.

Und aus anderer Richtung gefragt: Wo immer über die subkutanen, intersektionalen Programmierfehler unserer Sprache (generisches Maskulinum, N-Wort usw.) diskutiert und über mögliche Änderungen gestritten wird, wird dabei lyrisches Gebiet betreten? Leute, die in der Literatur stolz das Experiment hochhalten, können sehr ungehalten reagieren, wenn jemensch „ihrer“ vertrauten Alltagssprache an die Substanz will, in der sie sich, im Gegensatz zu anderen, wunderbar geborgen fühlen. Sie finden Irritation dann überhaupt nicht mehr „spannend“ und „interessant“, sondern „unästhetisch“ und „politisch korrekt“. Es wird also in den Möglichkeitsraum des sprachlichen Experimentierens ein Bereich eingezogen, der sich Kunst nennt und in dem wild geplanscht werden darf, solange das Nichtschwimmerbecken dabei nicht verlassen wird.

Die Politik der Lyrik auf einer Skala von Kunst bis Leben

Wie ist es also um diese Grenzen der Kunst bestellt und wie lässt sich Lyrik im Verhältnis zu ihnen verorten?
Was Linus und Max vereint, ist ihre mangelnde Bereitschaft, so etwas wie einen künstlerischen Sonderstatus der Lyrik überhaupt anzuerkennen. Max trägt Erwartungen an Lyrik heran, die unterschiedslos für Wissenschaft, Journalismus oder Umgangssprache gelten können. Bei Linus geht es darum, sich aus dem „normalen Lauf der Dinge“ heraus ein lyrisch-künstlerisches Hantieren mit Sprachdingen anzueignen, auf dass es zum neuen normalen Lauf der Dinge werde. Aber was macht dieses künstlerische Hantieren im Unterschied zum normalen Hantieren mit Sprache aus und was garantiert seine Freiheit von einer höheren Instanz?

Lyrik

Der Begriff ‚Lyrik‘ kann sich auf die Erzeugnise innerhalb einer Lyrikszene (die aus Traditionen, Institutionen, Infrastruktur, Kunstlabel und Eigennamen besteht) berufen, oder einen außerbetrieblichen, nicht allein institutionell oder traditionell definierten, Sprachmodus meinen, der zunächst kulturphilosophisch von Interesse ist. Unter Dichtung ließen sich dann sowohl 1. eine bestimmte Konstitution der Schreibenden/ Lesenden (lyrische Haltung / lyrische Wahrnehmung / lyrischer Weltzugang), 2. spezifische Vorgehensweisen und Eigendynamiken in Schreiben und Sprechen, 3. eine bestimmte immanente Verfasstheit sprachlicher Erzeugnisse (sprachliche Operationen, die nur im Gedicht vor sich gehen / nur im lyrischen Vortrag an Momentum gewinnen) samt ihrer Wirkung (Veränderungen in der sinnlichen Wahrnehmung und Denkweise, nachdem man (zu lange) Lyrik ausgesetzt war) verstehen. (Und – wer will sich schon so beschränken? – auch gleich eine Lebensform. Aber wenn alles lyrisch ist oder alles politisch, werden beide Begriffe untauglich).

(1) Feinnervigkeit gegenüber der Sprache und ihrer sinnlichen Schliche oder Perfidie. Semantik der Sinnlichkeit. Freude am Sprachspiel. Irritation und das Gefühl, sich in der herrschenden Sprachwelt nicht wiederfinden zu können/wollen. Eine Haltung gegenüber den Grenzen (innerhalb) der Sprache und den sozialen Grenzen, die sich durch das Sprechen ziehen (der Sprachräume, der Stoffe, der Geschwindigkeiten, der Peinlichkeit). Eine Mikropolitik, in der die Sprache sowohl als Widerstand, Realität als auch als Werkzeug aufgefasst ist.

(2) Bevor Lyrik ein Gedicht ist, ist sie erst einmal eine Art zu schreiben, die es in ihrer Eigenheit und Wirkmacht zu bemerken und untersuchen gilt. Lyrik ist ein Sprachgestus, der sich erst in der Arbeit mit Sprache und ihren soundsovielen sinnlichen Ebenen verfertigt und eröffnet. ‚Lyrische Performanz‘ entsteht nicht erst im Vortrag, sondern schreibend / Wörter, Geräusche und Sätze laut vor sich hersagend / auf dem Blatt hin- und herschiebend, ihre unwägbaren Reaktionen beobachtend. Lyrik ist eine Tätigkeit, in der alle sinnlichen und semantischen Eigenschaften der Sprache handlungsleitend werden können. In der die  Möglichkeitsräume der Sprache erst entstehen, in der das Schweigen, die Bevormundung und die Grausamkeiten der Sprache zu Tage treten können und aus der die Irritation, die Neugierde, das Spiel, das Stocken und Innehalten bei sprachlichen Einzelteilen und Wirkmechanismen erwachsen kann. Denn welche morphologischen, klanglichen, semantischen, narrativen, bildlichen und schriftbildlichen Verbindungen die Wörter haben, eingehen können und welchen Eigensinn sie behaupten, wird erst offenbar und verhandelbar (dem Spiel oder der Kritik zugänglich), wenn sie auf einem Blatt miteinander reagieren können und in ihren lautmalerischen Dimensionen gehört werden. Wenn ihre Bildlichkeit im Verhältnis zu den Bildern, die unwillkürlich durch unser Bewusstsein treiben, untersucht werden kann. Ein Hantieren mit und ein Denken in der Sprache also, das sowohl ein Vertrauen in Sprache erfordert (+ Gunst der Stunde, Zufall, Ereignis und göttlicher Funke), als auch eine immer lauernde Skepsis ihr gegenüber hegt. Eine der Möglichkeiten, handelnd zu sprechen anstatt nur zu plappern, die latent immer vorliegt auch wenn sie nicht ausgeübt wird und deren (gemeinsame) Ausübung eine sich vergrößernde Selbstermächtigung, Eigentümlichkeit und Unwägbarkeit bedeuten kann, daher immer auch tendenziell gefährlich und gefährdet ist (Behauptung und frommer Wunsch).

Innerhalb aller Textformen ist die Eigenheit des Gedichts (3) ebenso schwierig trennscharf zu bestimmen: Weder ist ihm sprachliche Bildlichkeit, noch irgendeine andere Form sprachlicher „Uneigentlichkeit“ auf exklusive Weise eigen, noch das Spiel mit Klang und Typographie. Weder muss es Erzählstrategien kampflos der Prosa überlassen, um seinen Begriff zu erfüllen, noch seine Ironie an die Werbung verkaufen. Genausowenig scheint es zu stimmen, dass Lyrik „intensiver“, weil verdichteter ist. Oder punktgenauer trifft, weil sie verknappter ist und manchmal in der Morphologie herumwühlt (damit ist sie nicht auch automatisch das Trüffelschwein im Sprachschlamm der Gesellschaft). Sie kann schwammig, stampfend ungenau und vollkommen stumpf sein. Und darin enorm gut – auch eine zelebrierte Breiigkeit und Unverbindlichkeit kann den politischen Reiz eines Gedichts ausmachen. Im letzteren Fall ist Lyrik eine Art sprachlicher Bühne, auf der Sprechhaltungen oder Banalsprech in bestimmter Form reflektiert, aufgeführt oder dekonstruiert werden können. Es gibt eine Gedichten eigene Contenance, egal wie charakterlos oder -stark ihre Verfasser*innen gewesen sein mögen, die über die Vorstellung eines lyrischen Ichs hinausgeht und in der es keine identitäre Deckungsgleiche gibt. Jedenfalls dann nicht, wenn im Schreiben Widerhaken und Eigenbrötlerei der Sprache mindestens ebenso wichtig waren, wie das, was gesagt werden sollte oder wollte. So ist es zu erklären, dass politisch Bewusstlose aufrührerische Sprachen entwickeln können. Und gleichzeitig auch die erklärte Absicht, eine selbstreferenziell-ästhetizistische Blubberblase zu einer welthaltigen Aussage hin zu durchstoßen, Neuerungen in der Sprache lostreten kann. Ich sage ‚kann‘, weil das Gelingen einer eigensinnigen Schreib – oder Gedichtform immer neu auf dem Spiel steht und nirgendwo als Rezept vorliegt.

Ein Gedicht kann mich also als Sprachgebilde treffen, abstoßen, berühren und damit eine reale Wirkmacht in der Welt behaupten (4), ohne dass mir die verfasserische Intention aus dem Text entgegenragen muss oder mir Streichhölzer zwischen die Lider klemmt. Es können außerdem, was den sozialen Kontext solcher Begegnungen angeht, Schlüsse von der Randständigkeit der Lyrik auf ihre Bedeutung gezogen werden. Nach dem Motto: An ihr muss doch etwas sehr speziell sein, wenn sie (in Deutschland) meist als seltsame Alternativbegabung und als naturgemäß inkompatibel mit Geld oder Massenwirkung wahrgenommen wird („war immer so, wird immer so sein“). Oder es werden Rückschlüsse auf das Land gezogen: Hier muss so einiges im Argen sein, wenn Lyrik einen so schweren Stand hat. Manche denken, Lyrik sei eben ein sprachliches Rätsel, für das hier viele zu faul oder dumm sind; elaborierte Sinnverweigerung in einer Welt der verständigungsgeilen Kommunikation. Aber eine solche Definition von Lyrik-als-Gedicht-als-semantische-Verweigerungshaltung ist unzureichend und begriffsfaul und die Einigung auf wenige salonfähige, vermeintliche Rätselsprachen (die man sich gönnt, um anderswo noch ungestörter kommunizieren zu können) leisten ihren Beitrag zur elitären Verinselung und -ödung der Lyrik. Denn jedes spielerische, vieltuerische, selbstermächtigende und erkenntnisträchtige Verhältnis zur Sprache (oder überhaupt irgendein Verhältnis zur Sprache), das den allermeisten Kindern eigen ist, kann schon in der Schule nach hinten losgehen, wenn dort entweder jedem sprachlichen Mittelchen seine Bedeutung und eine Wirkungsweise zugewiesen werden soll. Oder, und das ist mindestens ebenso ärgerlich, davon ausgegangen wird, dass es gar nichts zu verstehen oder damit anzufangen gibt, und das ja eben das tolle ist (u.a. weil zeitgenössische Lyrik oft ohne kongeniale Begriffsarbeit und Didaktik auskommt).

Aber Lyrik scheint trotzdem sehr wohl eine Massenbewegung und überall aufzufinden zu sein. Sie ist ununterscheidbar bzw. tröpfchen- und splitterweise in Prosa, Songtexten, Musik, Sprechgesang, Slam, Propaganda, Werbung, Reiseführern, Packungsbeilagen, Design, Bildern, Gesten, Telefonseelsorge, bestimmten idiosynkratischen Sprechweisen, Sprachschnipseln usw. zugegen. Aber hier ist es ebenso sinnfrei, den lyrischen Begriffsbereich auf all diese Formen auszudehnen, wenn es nicht diese Formen selbst sind, sondern eine bestimmte Auffassung von oder ein Umgang mit ihnen, der als lyrisch empfunden wird. Ist es immer schon selbstverständlich oder ist es immer noch albern, anzunehmen, dass zB Rap ein vermeintlich seriöseres Label wie Lyrik/Literatur für irgendetwas (Nobilitierung, wissenschaftliche Anschlussfähigkeit etc.) benötigen sollte, wo die Mitgift doch eher gering ausfällt? Wie lässt sich also umgekehrt der lyrische Anteil bestimmen, der in andere (Kunst)formen und Prozesse eingelassen ist?

Kunst

Die beliebtesten Antworten auf Fragen nach Kunstcharakter und Politik der Lyrik, sind (neben der Untersuchung des lyrischen Umgangs mit offenkundig tagespolitischen oder zeitgeschichtlichen Inhalten) kunstbegriffliche Überschreitungen in alle Richtungen, die ein grenzwärtiges Kippeln oder Flackern nach sich ziehen (1): Lyrik als Kunst mit politischem Potenzial ist Schreiben an den Grenzen einer (bis dato als lyrisch geltenden) Sprache mit einem Fuß in einem bis dato eher „fremden oder kunstfernen“ und daher unverbrauchten Sprachmaterial (Fachsprachen, Straßensprech, Rezensionsfloskeln, Mundart, Zeichenkombinationen, die in Chats verwendet werden, Googletreffer, Kartenlegenden, andere Kunstformen, äh’s und öh’s, Schweigen); es sind Versuche, sich aus dem abgestandenen Klischee und Kunstdunst zu retten und im Schreiben frische Lebens- und Sprachäußerungen anzuverwandeln oder zu erwandeln, die der eigenen Erfahrungswelt entsprechen oder ihre Erweiterung und Kritik versprechen, ohne dabei auf den Platz innerhalb einer Kunstszene ganz zu verzichten und gänzlich auf der Seite von Schrulligkeit, Unhörbarkeit oder Banalität zu landen. Denn alles ist an seinen Rändern am schönsten. Eine beliebte Formel wäre zB: Sonettform + X = Lyrik als Kunst.

Damit einher geht das halbherzige Verlassen eines bisherigen künstlerischen Hoheitsgebiet samt der dort herrschenden kleinen Expert*innen. (Was in Theater und bildender Kunst die verlassene Bühne, der Ausgang der Kunst aus ihrer selbstverschuldeten Musealität gewesen sind; Versuche, die Kunst im Leben zu verwirklichen, zB der Situationistischen Internationale). Und natürlich sind all diese Grenzüberschreitungen gleichzeitig Bewegungen back to the roots, denn bevor Lyrik Kunst war, hatte sie ja schon allerlei andere Posten inne. Das könnte politisch sein (etwa beispielhaft auf eine mögliche gesellschaftliche Entwicklung hinweisen), weil doch ein vermeintlich sicheres Terrain mutig verlassen wird. Stattdessen muten viele solcher Grenzüberschreitungen wie Pflichterfüllung oder Turnübungen an, die den Status Quo zementieren, weil die Überschreitung institutionell erwartet und bewacht wird, möglichst öffentlichkeitswirksam, verdichtet und sicher inszeniert ist und eher solche Leute beim Kunstbegriffsdemolieren beobachtet werden können, die den Vertrag mit einem guten Verlag schon in der Tasche haben oder ihre Hasstirade auf Literaturwettbewerbe beim Literaturwettbewerb aufsagen können. Es gibt also eine Genervtheit, die besagt: Alles, was in den Bereich der Kunst eingehegt, -gelegt und -gepflegt wird, verliert an Schärfe. Die Kunst ist leblos und Lyrik innerhalb der Kunst die gruseligste Mischung aus prekär und elitär, es ist die selbstreferentielle Idiotie von Experten und Schreibschulen, sie hat mit mir nichts zu tun, mir nichts zu sagen. Die Kunst ist hier ein als entleert empfundener Diskurs-, Institutions- und Begriffsraum, ein Zoo.

Die Reaktion ist: Die Kunst offiziell verlassen (und damit im Geschäft bleiben). „Kritisch“ zeigen, dass ‚Kunst‘ ein beschränkter, genauso aufgeregt bewachter wie ausgehöhlter Bereich ist, der die gesellschaftliche Borniertheit im Kleinen modellhaft nachstellt und in dem eine selbsternannte Jury ihr fragwürdiges Unwesen treibt, was ebenso scharfsinnig wie folgenlos durchschaut wird. Die Uneigentlichkeit und den Abstand der Kunst von anderen Äußerungen und Lebensformen also aufheben, und (hier landen wir wieder bei der Lebensform)  reale Trauerarbeit leisten, bei ihren Verfasser*innen authentisches Begehren erkennen, real den Handlungsradius erweitern, die wie-Vergleiche abschaffen (im übertragenen Sinne…) und stattdessen „echte Metaphern“ verlangen, in denen die Sprache nicht mehr verweist oder sich in die Zwischenräume klemmt, sondern glücklich mit dem, was sie will, identisch ist. Oder aber: ausschließlich selbst ist und erschafft, wovon sie spricht und damit als Ufo den konkreten Weltbezug zu verlieren droht.

Was dabei auf dem Spiel steht ist klar: Ein fragiler, bestreitbarer Raum in der Sprache und im Schreiben (‚Kunst‘), der eine so seltsame wie kostbare Leere aufweist, in der weder die Identität der Autor*innen noch die der Adressat*innen noch Funktion, Kausalität, Vektoren, Effekt und Absichten der Sprache festgefügt sind, sondern strittig bleiben können. Lyrik als Kunst ist also eher so etwas wie Alf – eine alien life form mit Haaren.

Politik

Weil es aber offenkundig keinen besonders beeindruckenden politischen Effekt hat, wenn nur einige wenige grenzüberschreitend mit Sprache hantieren – auch wenn sie dabei rebellisch funkelnde Sprachen entwickeln, die in ihrer Seltenheit ausstrahlen – gibt es einen allgemeineren Trotz und eine Weigerung, die Kunst weiterhin repräsentative Demokratie spielen zu lassen (manche Menschen dürfen stellvertretend für alle Menschen im Namen der Kunst bestimmte Dinge tun, sagen und herstellen, weil sie irgendwo studiert, gut genetzwerkt oder ein schönes  S/W-Foto von sich an einem Berliner Schreibtisch haben / einige Gedichte spiegeln beispielhaft, in verdichteter Form, die Erfahrungen vieler wider oder zeigen die bewahrenswerte Eigentümlichkeit eines  einzelnen Sprachgebildes in unserer rationalisierten und rationierten Sprachwelt).

Die Konsequenz wäre Linus‘ Ansatz, das heißt: loslegen, anfangen, machen. Denn es gibt, unmittelbarer, einen Drang und eine Lust, lyrisch zu schreiben, der die vermeintlichen Grenzen der sprachlichen Zuständigkeit und die Dialektik oder Paradoxie eines politischen Kunstbegriffs egal bis unbekannt ist. Und die immer auch einer Weigerung entspringen oder in sie münden kann, sich mit den Begebenheiten abzufinden, ohne ihnen gegenüber (eine drohende, spöttische, kritische oder stolze) Haltung in der Sprache zu gewinnen. Lyrik ist hier als  Grundbefähigung verstanden: Zu wilder oder präziser Sprache, zu Schönheit, Glück, Jämmerlichkeit oder Kargheit der Sprache und zur eigenen Herstellung und Gestaltung der Dinge/Worte, mit denen sie oder er sich umgeben und in der Welt zugegen und unterwegs sein will. Weil es in unserer Gesellschaft aber kaum Anreize gibt, über die Pubertät hinaus überhaupt ein Verhältnis zur Sprache zu pflegen, ist das eine gemeinsame Herausforderung (in Freundschaft und Streit / in einer Hermetik, die von anderen weiß): Möglichst unvoreingenommen davon auszugehen, dass alle sich oder etwas, das sie umtreibt, auf vielerlei Weise sprechen lassen können, dass der Möglichkeitsraum nie kongruent ist mit dem sozialen Vorurteil und jeder Kanon eine gemütliche Lüge. Sicherlich ist das auch ein wenig Hippie-normativ, denn zwar muss dazu nicht aufgefordert, aber es sollte, zB in der Schule (die es immer abbekommt, aber sicher nicht allein zu verantworten hat) oder in einer vorauseilenden Festlegung von intellektuell Befähigten, auch nicht bewusst verhindert werden.

[hr]

(1) Ich habe mich bei den Überlegungen zur Rolle des Kunststatus für eine Politik der Lyrik bei Jacques Rancière bedient, und seinen Überlegungen zur „Politik der Sirene“ und zum „Fleisch der Worte“ (Worte, die eine Spannung zwischen den Polen Kunst und Leben halten müssen, um politisch zu sein). Vor allem aber bei seiner Interpretation der Dichtung als gemeinsamer Praxis im Saint-Simonismus. Wie dort nachts Gedichte geschrieben wurden, anstatt die Körper für die Arbeit am nächsten Tag auszuruhen. Wie sich in den entstandenen Texten nicht eine zugewiesene Arbeiteridentität in Form von ‚Arbeiterlyrik‘ verfestigt, sondern stattdessen ähnliche Dinge beschrieben werden, wie in der zeitgleichen bürgerlichen Dichtung (Müßiggang, Sonntagsausflüge). Was nicht heißen soll, dass die Arbeitenden dem Bürgertum nacheiferten, sondern dass dem Bürgertum nie eigen war, was ihm gehörte. Sich im Schreiben also genau da neue politische Subjektivitäten ereignen, wo die gesellschaftlichen Identitäten verfestigt sind und wir sozial auf dem Schlauch stehen.

Comments

  1. Pingback: Lyrische Handlungsfähigkeit IV: Antwort an Linus, Max und Charlotte | Babelsprech.org

Kommentar verfassen