Politik der Lyrik #1: Redaktion Randnummer – Eine Antwort auf Enno Stahl

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Wie schon vielfältig angekündigt betritt dieser Blog am Samstag, den 1.3. zum ersten Mal analoge Welt und Rampenlicht. Als Diskutanten für die Auftaktdiskussion haben wir Enno Stahl und die Redaktion der Literaturzeitschrift randnummer gewinnen können, vertreten durch Philipp Günzel. Kurz vorab dokumentieren wir hier nun bereits die Thesen, entlang derer beide Seiten am Samstag ihre Positionen vorstellen werden. Dies ist die Antwort der randnummer-Redaktion auf Enno Stahls Text:

Wider eine Poetologie der Ausgewogenheit. Eine Antwort auf Enno Stahl mit einer handvoll Thesen.
von Simone Kornappel, Philipp Günzel und Dennis Büscher-Ulbrich

 

 „Was ein Künstler ohne Revolution macht? Na Kunst.“
Ronald M. Schernikau

I.

Eine dezidiert politische Haltung fragt nach den Bedingungen der Möglichkeit von Emanzipation. Haltung ist aber erst einmal ein in Gedichten abwesendes Moment und sucht ästhetisch nach Formen des Dissenses und dissensueller Erfahrung jenseits des realpolitischen, sprich warenproduzierenden Zwangskonsenses.

II.

Haltung ist aber nicht notwendig gedichtimmanent. Ob Haltung im Gedicht reflexiv zur Sprache kommt oder nicht, ist Sache der Haltung selbst. Keineswegs darf dies jedoch mit der Haltung eines empirischen Autors gleichgesetzt werden. Ebendieser kann eine solche Haltung aber in Solidarität mit den Marginalisierten und Ausgebeuteten produktions- und formalästhetisch – im Benja-minschen Sinne – durch die Tendenz des „Werks“ vermitteln. Dabei sind Brechts Verfremdungs-effekt und Adornos hermeneutischer Rätselcharakter zwei Seiten derselben Medaille, deren Möglichkeitsbedingung die ästhetische Distanz ist. Ob und wie Kunst im Allgemeinen und Lyrik im Speziellen diese Distanz im doppelten Sinne „schaffen“ kann, bleibt eine der grundlegenden ästhetisch-politischen Fragen.

III.

Entfremdung kann verstanden werden als ein falsches bei sich selbst sein. Verfremdung ist der Versuch sich selbst und den Dingen wieder fremd zu werden.

IV.

Weder Prosa noch Lyrik konnten jemals Wirklichkeit „eins zu eins“ abbilden. Gelebte Wirklichkeit ist immer vermittelt; durch falsches Bewusstsein, idiosynkratischen Geist, Sprache, soziale Praxis. Für die Literatur gilt dies in besonderem Maße, da Vermittlung hier zusätzlich durch das Schreiben und seine Materialität bedingt ist und über bloße Repräsentation hinausgeht. Es wäre nur die halbe Wahrheit, wenn man glauben würde, dass durch bloßes hinschauen die Wirklichkeit – so, wie die Welt tatsächlich ist – erfasst, erfahren werden könne. Die Welt ist gerade in der Unmittelbarkeit Schein. Damit handelt man sich natürlich schnell einen Ideologiebegriff ein, der die Literatur vor große Aufgaben stellt, an denen sie entweder wächst oder anhand derer sie banalisiert wird.

V.

Es braucht also eine kritische Analyse der Gesellschaft, was wiederum Konsequenzen hat für die Art und Weise, wie über Verfahrens- und Wirkungsweisen von Gedichten nachgedacht wird. Deleuzianisch anhand von Affekten und Perzepten, Raum-Zeit-Einheiten, aber auch im adornitischen Sinne in Verdinglichung und Erfahrung oder in Erfahrungsmodi.

VI.

Das Gedicht holt die Menschen nicht da ab, wo sie stehen geblieben sind, um sie reformistisch mit Bildung vollzustopfen und dabei doch fortwährend auf Distanz zu halten. Das Gedicht ist den Menschen nicht voraus. Es setzt die Mündigkeit der Leser voraus, die sich ihres eigenen Verstandes bedienen und der Selbstreflexion fähig sind. Erst danach ist das Gedicht im Zweifel notwendig elitär – ein ungnädiger Sparringspartner, denn: Emanzipation tut erstmal weh.

VII.

Gedichte haben keinen eindeutigen Adressaten. Es gibt keine Klientel, die es besonders nötig hätte Gedichte zu lesen, damit diese etwas versteht, um dann entsprechend zu handeln. Das Gedicht ist Flaschenpost.

VIII.

Ansonsten lieber Lenin.

IX.

Die Rezeptionshaltung des Lesers ist nicht – oder nur in sehr begrenztem Umfang – antizipierbar. Das Gedicht bildet mit dem Rezipienten keine Reiz-Reaktions-Maschine, was wiederum nicht das Nachdenken über Strategien und Wirkungsweisen von Gedichten ersetzt.

X.

Form und Inhalt als das jeweils andere seiner selbst begreifen. Ohne diese dialektische Perspektive wechselseitiger Vermittlung laufen alle Diskussion über literarische Formen und deren Inhalte – als handelte es sich tatsächlich um neutrale Container, die es thematisch zu befüllen gilt – Gefahr, nicht nur trivial, sondern reaktionär zu werden.

XI.

Das Gedicht spricht im Modus der Übertreibung: Es soll noch grausamer, bestialischer und unmenschlicher als die Wirklichkeit selbst sein. Das Gedicht ist somit fies und gemein, es ist ungerecht und beschäftigt sich am liebsten mit sich selbst, denn es ist sich selbst am nächsten. Es ist aber auch oberflächlich betrachtet scheißfreundlich und hintenrum fällt es dir in den Rücken.

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