Eine Zeile, die etwas taugt – Zu den Gedichten Clo Duri Bezzolas

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von Sascha Garzetti

Keine wissenschaftliche Textanalyse, kein Essay im eigentlichen Sinn. Eine unaufgeräumte, aber freundliche Einladung, die Gedichte des Bündner Schriftstellers Clo Duri Bezzola zu lesen, möchte dieser Text sein. Irgendwo anfangen. Am Anfang. Dazu kurz erzählen, wie es zuging.

Im vierten Band der Werkausgabe von Klaus Merz mit dem Titel Der Mann mit der Tür oder Vom Nutzen des Unnützen findet sich eine Auswahl an Feuilletons – Aufsätze, Kolumnen, Reden, Aperçus – versammelt. Darin auch ein Text mit dem Titel Eine Seele, zwei Sprachen, benannt nach dem gleichnamigen Essay von Clo Duri Bezzola. Ein Nachruf. Klaus Merz zeichnet darin in wenigen Sätzen die biografischen Linien Bezzolas nach, denkt zurück an ein Poesiefestival im Jahr 1996 in der zerstörten Nationalbibliothek von Sarajevo, wo Clo Duri Bezzola und Klaus Merz als „Vertreter der Schweizer Literatur“ Gedichte lasen. In den darauffolgenden Nächten in einem Künstlercafé nahe dem Bazar ein Zusammensitzen mit Menschen aller Ethnien, Kommunikation in mehreren Sprachen, Verständigung mit Händen und Füßen. Im Nachruf auch zwei Gedichte von Clo Duri Bezzola. Eines davon trägt den Titel Durada/ Dauer:

Durada

Nus esitain
sco’l vent
ed il nivel
tranter gnir
e partir

Spetgain
ch’il tschiel
ans regalia
ses blau engulà

Dauer

Wir zögern
wie der Wind
und die Wolken
zwischen Kommen
und Gehen

Warten
auf ein Geschenk
vom Himmel
das gestohlene Blau

Man ahnt: Rätoromanisch müsste man sprechen können. Natürlich. Oder aber: Ein Glück, dass Clo Duri Bezzola seine Gedichte in die rätoromanische und in die deutsche Sprache trägt. So fährt der Leser mit den Augen nach allen Seiten über das Papier, streift von links nach rechts und zurück, von oben nach unten und – wer weiß – von unten nach oben. Tranter gnir/ e partir. Ch’il tschiel. Der Autor setzt seine Wörter unaufgeregt, fügt Alltagsvokabular so, dass sich dem Auge, dem Kopf neue Bilderwelten öffnen, auffalten aus einem Wort, das nur allzu bekannt scheint. Wie von Hand. Präzises Handwerk.

Der Schriftsteller Clo Duri Bezzola war mir bis anhin unbekannt. Als ich in dem von Klaus Merz verfassten Nachruf auf das hier zitierte Gedicht stieß, fühlte es sich an wie ein Anstoßen mit dem Kopf. Ich war im guten Sinn vor den Kopf gestoßen, angestoßen. Ich recherchierte nach weiteren Texten des Autors. Es scheint, als habe sich Clo Duri Bezzola auf die deutsche Sprache zugeschrieben. Während die frühen Veröffentlichungen mehrheitlich in rätoromanischer Sprache vorliegen, sind die späteren Texte auf Deutsch verfasst. In deutscher Sprache sind zwei schmale Bände greifbar. Einerseits der Roman Zwischenzeit, der 1996 im Zürcher Pendo Verlag erschien. Andererseits der Gedichtband Das gestohlene Blau/ Il blau engulà, aus dem auch das Gedicht Dauer stammt, ebenfalls publiziert im Pendo Verlag zwei Jahre später.

Clo Duri Bezzola wurde 1945 in Scuol im Unterengadin geboren. Er arbeitete als Primarlehrer, später als Sekundarlehrer. Daneben absolvierte er eine Theaterausbildung und inszenierte Aufführungen im Bereich des Schultheaters. Hinzu kamen Übersetzungen und Adaptionen von Theaterstücken. Ab 1972 veröffentlichte Bezzola auch Übersetzungen von Kinderbüchern, Theaterstücken, Gedichten, Kurzprosa und Romanen in deutscher Sprache. Er war Mitbegründer der Zeitschrift „Litteratura“ sowie Präsident des rätoromanischen Schriftstellerverbandes und setzte sich in Kulturstiftungen für die Belange der rätoromanischen Sprache und Literatur ein.

Clo Duri Bezzola verstarb 2004 in Männedorf im Kanton Zürich.

Neben den beiden erwähnten Büchern existiert ein Dokumentarfilm über den Autor. Der Film Scriver è viver – Clo Duri Bezzola ed il cancer/ Schreiben ist Leben – Clo Duri Bezzola und der Krebs von Daniel von Aarburg und Peter Kreiliger begleitet den Schriftsteller während der Jahre 2003 und 2004. Clo Duri Bezzola kämpft gegen den Krebs, schreibt und spricht wortwörtlich gegen „den Teufel“ an – immerzu in rätoromanischer Sprache – und skizziert die Grundaspekte seines Schreibens. Mein erster Gedanke: Darf ich einen Menschen, von dem ich nicht mehr kenne als einige biografische Eckdaten sowie wenige Gedichte, so sehen? Oder noch mehr: Möchte ich das? Unsicher noch heute. Bis zuletzt aber erzählt Clo Duri Bezzola. Hält mit Sprache dagegen, sagt: „Beim Schreiben geht man auf die Wahrhaftigkeit zu“. So das Gefühl, einem zuzuhören, der über Literatur spricht, weiter und weiter über Literatur spricht. Die Kamera ist nicht wegen des Teufels hier.

Eine andere Einstellung zeigt Clo Duri Bezzola am Ufer eines Engadiner Sees sitzend. Er fertigt mit einem Tintenfüller und mit schwarzer Tinte eine Skizze der Landschaft an, sagt: „Daraus entsteht immer etwas Rechtes. Manchmal heißt ‚etwas Rechtes’, dass ich heute Abend eine Zeile schreiben werde. Eine Zeile, die etwas taugt.“

Der Gedichtband Das gestohlene Blau/ Il blau engulà versammelt 56 Gedichte, wobei die Texte jeweils links auf der Doppelseite auf Romanisch, rechts auf Deutsch abgedruckt sind. Eingeteilt ist der Gedichtband in die Abteilungen Mes maun è passà tia pel/ Meine Hand ist über deine Haut gefahren, Utschels separan il tschiel da la terra/ Vögel trennen den Himmel vom Land und Il pled ha in auter pais/ Das Wort hat ein anderes Gewicht.

Clo Duri Bezzola schlägt keine Purzelbäume. Als wisse er um die Schwierigkeit dieser Turnübung. Keine Verrenkungen.

Bezzolas Gedichte sind sorgsam gestaltete Textgebilde, sind luftig im Satz. Doch es haften ihnen auch Gewichte an, an einzelnen Wörtern, an Lauten, hängt sich etwas an, wird die Schwerkraft spürbar. Aber keine großen Worte. Auch am kleinen Wort findet das Gewicht Halt und zeigt mit dem Schriftbild in die Vertikale.

Equiliber

A mezdi
è il sulegl
imparzial
parta cun mai
sumbriva e glisch

Tegn’en pasantina
mes pais

Schwebe

Am Mittag
ist die Sonne
gerecht
teilt mit mir
Licht und Schatten

Bringt
meine Schwere
ins Lot

Die Wörter sind mit Bedacht gesetzt, zeigen– noch einmal – den Dichter als Hand-Werker, der bei Bedarf das unpassende Wort zurücklegt. Nicht die Anzahl der Wörter soll den Texten Gewicht verleihen. So lassen sich auch gewichtige Träume in vier Zeilen notieren. So im Gedicht Giavisch/ Wunschtraum:

Giavisch

Bittar giu
la chargia

Arrivar
e pigliar
tia fugia

Wunschtraum

Last abwerfen

Ankommen
und deine Flucht
ergreifen

Die Gedichte behaupten sich mit jedem Wort. Sie setzen sich, richten sich ein auf dem Papier und im Kopf des Lesers. Sie setzen sich fest. Dabei keine Zeile verrückbar. Jeder Laut gerät an seinen Platz. Ein Wort zu viel brächte das Gedicht aus dem Gleichgewicht. Im Zweifel entscheidet sich Bezzola gegen das Wort oder: Für das Weiß des Papiers. Dabei deutet der Autor ein Schreiben an, das über das Wort hinausgelangt. Oder aber vor dem Wort einsetzt.

Marvegl

Tes flad
ma charezza
or dal sien

Jau met mi’ureglia
sin tes cor

Sut la pel
Sdasdan istorgias

Dämmerung

Dein Atem
streichelt mich
aus dem Schlaf

Ich lege mein Ohr
an dein Herz

Unter der Haut
erwachen Geschichten

Als ob sich das Gedicht rar machen, dem Gedanken nur für einige Zeilen eine Stimme leihen möchte. Für das Erzählen von Geschichten – so könnte man vermuten – bedarf es nicht der Wörter. Wohl aber für ein Sprechen über die Geschichten.

Erkenn- und hörbar auch der (Sprach-)Rhythmus, der die Texte ausbalanciert, tariert, im Zeilensprung und am Anfang der Strophen (hier der deutschsprachigen Fassung), wenn ein „ch“ ins „au“ gerät, das „i“ ein „f“ auffängt, das “z“ ins „u“ fällt. Man könnte sich einen Leser vorstellen, der während der Lektüre die Hand ausstreckt, das Gedicht beim Lesen auf dem Handteller trägt. Kein Wort ginge verloren, kein Laut fiele über den Tellerrand. Das Gedicht im Gleichgewicht. Als Gegengewicht zur Schwerkraft.

Der Bündner Schriftsteller Iso Camartin weist in seinem am 19. August 2004 in der NZZ erschienenen Nachruf mit dem Titel „Liebe zum Leben“ auf die spezifische Rolle der Literaturschaffenden aus dem rätoromanischer Raum hin: „Rätoromanische Autoren sind heute beinah so etwas wie Doppelagenten. Freilich solche der risikoarmen Art. Nicht nur wandern sie zwischen ihrer eigenen Muttersprache und jener ihrer größeren Umgebung schreibend hin und her. Meistens empfinden sie sich auch in doppelter Mission unterwegs. Sie sollen Aufmerksamkeit wecken für eine Sprache, nach der kaum jemand zu verlangen scheint. Und sie sollen innerhalb eines unspezifischen Wohlwollens für kulturelle Randerscheinungen ihre persönliche poetische Botschaft hörbar machen.“

Auch Bezzola setzte hier zum Spagat an, ging der von Iso Camartin skizzierten Mission mit Bestimmtheit nach.

Was man als Leser, der nicht nur in deutscher, sondern auch in romanischer Sprache lesen könnte, bei der Lektüre gewänne, wurde angedeutet. Es mag am Eindruck des Films „Scriver e viver“ liegen, dass ich mich häufiger als sonst beim Lesen zweisprachiger Buchausgaben zwischen den Sprachen hin und her zu bewegen versucht habe. Laut lesend. Freilich immer so, dass mir niemand zusehen, niemand mir zuhören konnte. Dann las ich die rätoromanischen Texte vor mich hin, imitierte dabei den Klang, der mir von Bezzolas Ausführungen – etwa, wenn er unten am Fluss steht und gestikuliert – noch im Ohr war. Ich fühlte mich dabei einigermaßen lächerlich und klein. Klein vor der fremden Sprache, deren Idiome ich so gut auseinanderhalten kann wie die Farben der Nacht in den verschiedenen Tälern des Bündnerlandes. Klein aber auch vor dem poetischen Sprachton, den ich aus den rätoromanischen Texten herausahnen, manchmal – so bilde ich mir ein – heraushören konnte.

Das zweite Gedicht, das Klaus Merz in seinem Nachruf zitiert, trägt den Titel Semenza/ Aussaat:

Semenza

Scrit
cun il det
en la naiv

sultgà
il funs
per poesias

Aussaat

Mit dem Finger
In den Schnee
geschrieben

den Boden
urbar gemacht
für Gedichte

Das Gedicht schließt das Kapitel Il pled ha in auter pais/ Das Wort hat ein anderes Gewicht und gleichsam den Band Das gestohlene Blau/ Il blau engulà ab. Ein Schreiben mit Zeichen, in einer Sprache vielleicht, die wir kennen. Ein Schreiben in Wörtern vielleicht. Vielleicht aber auch eine Linie, eine Furche im Schnee, die mit Sprache auf den ersten Blick wenig gemeinsam hat. Ein Wort im Titel und sechs Zeilen, die nicht nur etwas beschließen, sondern gleichsam den Raum öffnen für die Gedichte, die noch kommen mögen.

Manchmal reichen vier Zeilen. Manchmal ist ein Wort genug. Ein Wort, das etwas taugt. Manchmal genügt eine Fingerzeichnung im Schnee. Ein Ohr an einem Herz.

Ich erinnere mich an ein Gespräch zwischen Werner Morlang und dem Schriftsteller Gerhard Meier. Meier sagt: Ich habe meine Texte während meiner Wanderungen in den Wind geschrieben.

Clo Duri Bezzola sitzt im Rollstuhl an der Sonne, klopft sich mit der rechten Hand auf den linken Oberarm. Die Kraft ist wieder da. Auf die Frage, ob er nicht Angst habe, seine Texte nicht mehr zu Papier bringen zu können, schüttelt Bezzola den Kopf, tippt sich mit den Zeigefinger an die Stirn. Nicht, um dem Fragensteller zu signalisieren: Du bist ein Dummkopf! Um zu sagen: Hier drin, ich schreibe meine Texte hier drin. Clo Duri Bezzola setzt auf das Wort, verlässt sich darauf.

Schriebe ich diesen Text noch einmal, würde ich mich an den Begriff der Bescheidenheit machen, ihm einen Platz zuweisen. Vielleicht ein Wort zu viel geschrieben und dabei zu kurz gegriffen. Andere Gedichte auswählen. Vielleicht. Auch aus dem Prosatext Zwischenzeit zitieren. Ein Roman mit Klang und Rhythmus, Fantasie und Flunkerei. Sätze aufschreiben wie: „Die Zipfelmütze soll ein Schafhirt aus Aserbeidschan erfunden haben, den die Mücken beim Melken störten, womit die ursprüngliche Funktion der Bommel erklärt wäre, wenn nicht der Mond zeitlebens als Erfinder gilt.“ Die Einladung aber bliebe dieselbe.

Damit etwas gedeihen kann, bedarf es des Wassers, des Lichts, des richtigen Abstandes zwischen den Körnern. Clo Duri Bezzola verstand das Handwerk des Zeilenanlegens, des Aussäens. Irgendwo aufhören. Nach der Lektüre von Das gestohlene Blau/ Il blau engulà gelangt man an einen Anfang: Semenza/ Aussaat.

Vielleicht sind die letzten Texte von Clo Duri Bezzola noch irgendwo unterwegs, kreisen mit den Winden über den Unterengadiner Flüssen und Seen. Es wäre ein Glück, sie zu finden.

(alle Gedichte aus Clo Duri Bezzola: Das gestohlene Blau/ Il blau engulà, Pendo Verlag, Zürich: 1998; Titelbild © Suzie Maeder)

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