Babelsprech International: Tschechische Poesie

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Junge Dichtung gibt es in allen Ländern und wir wissen viel zu wenig davon. Gemeinsam mit dem Hilda Magazine, dem US-amerikanischen Magazin Full Stop und der holländischen Seite Samplekanon haben wir uns auf die Reise gemacht und unsere Suchaugen ausgeworfen. Nach Beiträgen über Finnland, Brasilien (hierhier und hier), die Niederlande (hier und hier) der Slowakei (in deutscher und englischer und einem Essay über das lyrische Ich im Internet (auch in deutscher Übersetzung) richten wir den Scheinwerfer nun auf Tschechien. Der Essay von Karel Piorecký ist bereits bei Displey erschienen, einer Kooperation von Randnummer und psí víno (Redaktion Peter Dietze und Buddeus). Ihnen allen sei an dieser Stelle herzlich für die Erlaubnis gedankt, den Artikel auch auf babelsprech.international zu veröffentlichen!

 

Vorsichtige Vitalität.
Neue Entwicklungen in der gegenwärtigen tschechischen Poesie

von Karel Piorecký
übersetzt von Lena Dorn

Wo fängt eigentlich die Gegenwart der tschechischen Poesie an? Für viele ihrer LeserInnen und KennerInnen ist das Ereignis, das die Gegenwart imaginär von der Vergangenheit trennt, der Sturz des Kommunismus im November 1989. Ein zweiter derart grundlegender gesellschaftlicher, politischer und kultureller Wandel hat im tschechischen Kontext seit Ende der achtziger Jahre tatsächlich nicht stattgefunden. Jedoch ereigneten sich unauffälligere Veränderungen, weniger revolutionär, als vielmehr evolutionär.

In den gerade posttotalitären neunziger Jahren war die tschechische Poesie in erster Linie gezeichnet von präzedenzloser Verwirrung durch die (literatur)geschichtliche Situation. In einem unübersichtlichen Wirrwarr durchwoben sich hier optimistische Gegenwart, unrühmliche und darum leidenschaftlich negierte unmittelbare Vergangenheit der sog. Normalisierung und eine ganze Reihe oft sehr archaischer literarischer Traditionen, die plötzlich öffentlich zugänglich gemacht, übereilt herausgegeben und gierig, wenn auch einigermaßen oberflächlich rezipiert wurden. Als eine der attraktivsten erwies sich die Tradition der spirituellen Lyrik, wiederbelebt einerseits in Anknüpfung an barocke Poesie, andererseits an die moderne katholische Lyrik (Pavel Petr, Petr Čichoň, Miloš Doležal u.a.). Ebenfalls anziehend, aber in neuen Werken weniger präsent war die Tradition der imaginativen oder (neo)surrealistischen Poesie, die auch den Reiz von bis vor Kurzem verbotenen Früchten hatte (Jaromír Typlt, Pavel Ctibor, Tomáš Přidal u.a.). Zur stärksten und man kann wohl sagen normbildenden Traditionslinie aber wurde die sachliche, deskriptive Lyrik, die sich insbesondere aus der zuvor ebenfalls verbotenen Poetik der Dichter der Gruppe 42[1] speiste sowie aus dem Erbe einer sog. Alltagspoesie. Der sachliche, von ästhetischen Deformationen und expressiven Haltungen befreite Ausdruck in den Gedichten von Petr Hruška, Petr Borkovec oder Petr Motýl passte gut zum starken Bedürfnis nach so genannter authentischer Literatur, die sich viel weniger auf ihre Literarizität als auf eine (Ahnung von) direkter Verbindung von Text und Lebensrealität stützte, für die voll und ganz der Autor selbst mit seinem charakterlichen und moralischen Profil bürgte. Ein allgemeiner Konsens bestand auch bezüglich der Frage, welche Beziehung die Poesie zur außerliterarischen, gesellschaftlichen und politischen Realität habe. Eine selbstverständliche und nur sehr selten gebrochene Norm war die Trennung des Politischen von der Literatur, präsentiert als ihre Befreiung von den von außen aufgezwungenen Funktionen (die es in der Zeit der Normalisierung gab sowie vor 1968) und damit als Möglichkeit, endlich sie selbst zu sein.

In dieser typologischen Unterteilung und diesen Bewertungsrahmen überschritt die tschechische Poesie das Jahr 2000 und verharrte so noch einige Jahre. Ihre Stabilität, Unveränderlichkeit und Ruhe verwandelten sich langsam in eine Art Leichenstarre. Kurz nach der Jahrtausendwende wurde jedoch klar, dass die freiwillige, ja sogar intendierte und programmatische Abwendung von der gesellschaftlichen Funktion der Poesie nur eine illusorische Freiheit brachte und sie in Wirklichkeit in eine neue Form der Isolierung zurückgeworfen wurde, nämlich das tiefe Desinteresse der lesenden und kulturellen Öffentlichkeit. Die Suche nach dem Ausweg aus diesem „Ghetto“, wie der Zustand damals oft bezeichnet wurde, wurde zu einem der Hauptthemen literarischer Diskussionen und Polemiken.

Die Polemiken kamen 2008 vollends zum Ausbruch, als zum Leitthema literarischer Zeitschriften die angebliche Krise der tschechischen Literatur wurde, die verursacht sei durch ihre Unfähigkeit, gesellschaftlich relevante Themen zu finden und sie der Leserschaft literarisch hochwertig und spannend darzubieten. An diese Debatte schloss sich eine langwierige, äußerst leidenschaftlich geführte und praktisch bis heute andauernde Diskussion über engagierte Poesie an. Der Konsens über die zeitgenössische tschechische Literatur, insbesondere Poesie, als eine apolitische zerfiel. De facto waren erst damit die posttotalitären neunziger Jahre abgeschlossen und es begann die Gegenwart, in der die tschechische Poesie sich heute befindet.

Der lang ersehnte Wandel wurde um 2008 nicht nur anhand hitziger Polemiken offenbar, sondern auch in der dichterischen Produktion selbst. Im Frühjahr 2008 erschien der Band Fantasía der gleichnamigen Dichtergruppe, der von nicht weniger Umbruchstimmung gekennzeichnet war als die genannte Diskussion.[2] Schon die Tatsache, dass sich gleich auf der ersten Seite ein Manifest bzw. Programm der Gruppe befand, erschien wie etwas unerhörtes. Dadurch wurde mit der vorherrschenden Haltung gebrochen, es gehöre sich nicht, dass ein Dichter sein Vorgehen reflektiere, er habe nur in Gedichten zu sprechen. Zudem ist die Kombination von Programm und Gruppenbildung mit den historischen Avantgarden konnotiert, die in den neunziger Jahren eher geringschätzig beäugt worden waren. Mit ihrem Programm rief Fantasía zur „Engagiertheit der Poesie in der Welt“ auf, zu dieser Art von Poesie solle ein „neues Pathos“ führen, das „eine Poesie hervorbringt, die sich bekennt zu einer Mitverantwortung am Zustand der Welt“.

Fantasía trug nicht nur durch ihr Programm zur Rehabilitation der Avantgardebezüge bei, sondern vor allem durch ihre poetischen Texte selbst, in welchen neo-avantgardistischer Bilderreichtum dominiert, der zugleich aufgewogen ist durch fast philosophisches Reflexionspotential und weit verzweigten Bezugnahmen auf ein breites Register kultureller, religiöser und künstlerischer Traditionen. Das gilt namentlich für den Dichter Adam Borzič sowie den die Imagination betreffend noch etwas wilderen Text von Petr Řehák. Die Poesie von Kamil Bouška ist etwas gemäßigter im Ausdruck – er ist ein Stück weit noch dem deskriptiven Lyriktypus verpflichtet, der seit Mitte der 90er Jahre im tschechischen Sprachraum dominierte, zugleich tendiert er aber schon zu starker Expressivität, Dramatik, Bedeutungs- und Rhythmusdynamik.

Im Jahr 2009 erschien das Debüt von Jan Těsnohlídek, Násilí bez přesudků (Gewalt ohne Vorurteile)[3], das ein weiteres Symptom des Wandels aufwies – ist es doch unter anderem eine offene und kritische generationelle Aussprache derjenigen jungen Leute, deren Kindheit in die Phase der ungezügelten Rückkehr der tschechischen Gesellschaft zum Kapitalismus fiel. Also wieder etwas, das in den neunziger Jahren quasi undenkbar gewesen wäre – ein Autor muss mittels Gedichten nicht nur für sich alleine sprechen, sondern kann eine allgemeinere, gruppenspezifische oder auf andere Art soziologisch zugespitzte Aussage anstreben.

Zeitlich ging die Diskussion über engagierte Poesie der dichterischen Praxis voraus, also neuen Werken, in welchen sich die theoretischen Vorstellungen hätten materialisieren können. Als einziges Beispiel wurde anfänglich nur Jan Těsnohlídek wahrgenommen mit seinem qualitativ relativ unausgewogenen Werk. Dieses Missverhältnis wurde jedoch relativ schnell beseitigt. Darum kümmerte sich insbesondere ein Kreis von AutorInnen aus dem Umfeld der Zeitschrift Psí víno. Neben Jan Těsnohlídek widmeten sich in diesem Rahmen Petr Štengl (Band 3+1, 2010), Ondřej Zajac und Ondřej Buddeus einer engagierten Poesie. Für junge AutorInnen mit Neigung zu politischen Themen schuf insbesondere der Verlag Petr Štengl neue Publikationsmöglichkeiten (z.B. die Bände Kapitalistische Gedichte [Kapitalistické básně] von Klement Václav Lakatoš und À la thèse von Roman Rops).

Die herausragendste Autorenpersönlichkeit aus diesem Kreis ist Ondřej Buddeus. Er ist logisch zwar mit dem Hang zur Engagiertheit verbunden, dennoch passt das Label auf ihn nicht genau. Sein eigenes Werk und seine darüber hinaus gehenden literarischen Aktivitäten sind weniger durch gesellschaftliches und politisches Engagement charakterisiert, als vielmehr durch das Bedürfnis nach einer Poesie, die im wahrsten Sinne des Wortes zeitgenössisch ist, also aktuelle Prinzipien der intersubjektiven und medialen Kommunikation reflektiert, innerhalb von digitaler Kultur, einer Veränderung und Verunsicherung von individueller und kollektiver Identität und Subjektivität u.ä.

Die zweite markante Entwicklung, die sich in der zeitgenössischen tschechischen Poesie ausmachen lässt, ist das allmähliche Aufkommen konzeptuellen Schreibens, welches sich von den amerikanischen Zentren ausgehend (Kenneth Goldsmith und Umfeld) in der europäischen Literatur verbreitete und das in den tschechischen Kontext namentlich Ondřej Buddeus mit seinem dichterischen, übersetzerischen und essayistischen Werk einführt.

Es ist ein weiterer Aspekt jenes Wandels, der sich in der zweiten Hälfte der nuller Jahre abspielte, dass die Abgeschlossenheit der tschechischen Poesie innerhalb ihres kleinen sprachlichen Zusammenhangs relativ systematisch aufgehoben wurde und sie mit dem literarischen Geschehen im Ausland in Kontakt tritt. Als eine Trägerin dieser Veränderung kann Olga Pek bezeichnet werden, Dichterin, Übersetzerin und Organisatorin des internationalen multilingualen Prager Mikrofestivals. Fundierte Kenntnisse vor allem der gegenwärtigen angloamerikanischen Poesie und ein Bewusstsein über die Notwendigkeit, die Form der lyrischen Subjektivität neu zu definieren, sind auch in ihren Gedichten offensichtlich, die bislang lediglich in Zeitschriften erschienen.

Gerade in dem Moment, als die Notwendigkeit offensichtlich wurde, Rolle und Funktion des Subjekts in der dichterischen Aussage neu zu definieren, kam im tschechischen Kontext der Ansatz konzeptuellen Schreibens auf. Dieser hat hierzu eine klare und stichhaltige Antwort parat: Es ist erforderlich, der Ausgangsidee oder Schaffensmethode eine stärkere Rolle im Bedeutungsgefüge des Werks einzuräumen als der Rolle des Subjekts, gegebenenfalls die Subjektivität des Autors ganz zu negieren durch Appropriation fremder Texte.

Vereinfacht ausgedrückt handelt es sich um eine der Formen experimentellen Arbeitens, die an die Tradition der historischen Avantgarden anknüpft und besonders auf die poetischen Experimente der 60er Jahre verweist. Damit wird wieder ein weißer Fleck ausgefüllt – denn genau diese Tradition experimenteller Poesie war im Tohuwabohu der 90er Jahre wohl am wenigsten präsent. Zu den wenigen Autoren, die an einer Kontinuität der tschechischen experimentellen Poesie festhalten, gehört (neben dem Performer und audiovisuellen Künstler Petr Váša mit seiner, in eigener Terminologie, „physischen“ Poesie) Michal Šanda. Bei ihm geht es jedoch nicht um Experimente auf der linguistischen Ebene, wie es im Rahmen der konkreten Poesie der 60er Jahre der Fall war, sondern eher um eine spielerische Arbeit auf der Ebene von Komposition, Ikonenhaftigkeit des Textes und Mystifizierung. Den Wurzeln experimenteller Poesie am nächsten war Michal Šanda in seinem ersten Band sto a (hundert und, 1994), in welchem er die Materialität und die Rolle des Buches als visueller Code auf die Spitze trieb. Ansätze konzeptuellen Arbeitens (Text, der geschrieben ist wie Kalenderblätter oder wie ein ausgefülltes Formular oder wie ein Wörterbucheintrag) sind in seiner Sammlung Metro (1998) zwar offensichtlich, jedoch überwiegt hier nach wie vor der Hang zur postmodernistischen Mystifizierung. Was wir heute als konzeptuell bezeichnen, kommt konsequenter in Šandas Komposition Hovězí srdce (Rinderherz, 1998) zur Anwendung, deren Aufbau auf der Zerstückelung von zwei Texten unterschiedlicher Provenienz gründet sowie auf den Techniken der Appropriation und der Textkollage. Die kompositionelle Achse des Werks bildet Šandas Gedicht „Hovězí srdce“ (Rinderherz), dieses wird indes wiederholt unterbrochen durch nach und nach eingeschobene Passagen aus dem Lexikoneintrag zum Stichwort „Schlachterei“, entnommen dem Ottův slovník naučný[4] (Teil 13, 1898) einschließlich eines Plans der Prager Viehschlachtereien und der Skizze eines Rinderherzes. Šanda nutzt hier den Kontrast zwischen poetischem und wissenschaftlichem Text maximal aus, dessen ästhetischer Effekt bereichert wird von der ergiebigen Lexikografie des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Šandas Arbeit der letzten Jahre weist bereits – in Übereinstimmung mit der jüngeren Generation experimenteller Dichter – ganz bewusst und gezielt in Richtung konzeptueller Zugänge (z.B. sein Beitrag zur kollektiven Sammlung 3,14čo[5]).

Spuren von konzeptuellen Zugängen sind auch in dem Band 55 007 znaků včetně mezer (55 007 Zeichen inklusive Leerzeichen, 2011) von Ondřej Buddeus zu finden, dessen erster Teil alle Wörter alphabetisch auflistet, aus denen die nachfolgenden Gedichte bestehen – die gleichen Wörter sind damit in einem Buch doppelt vorhanden, einmal als alphabetisch geordnetes Material, das andere Mal im Kontext der einzelnen Gedichte. Die Verwendung dieses „Materials“ durch den Autor wird somit präsentiert als eine von X Möglichkeiten, die aufgrund der Kombinatorik der Wörter geboten sind, und nicht als Ausdruck des Subjekts. Dieser Poesietypus erwartet eine starke LeserInnenaktivität – was besonders offensichtlich wird in dem Gedicht, dem Buddeus die Form eines Fragebogens gab und es als loses Blatt in einem Umschlag ins Buch legte. Ein im Voraus sorgfältig konstruiertes Konzept verfolgt Ondřej Zajac in seinem Band Kafegrafie (Kaffeegrafie, 2011), indem er diesem Gedichtbuch den äußeren Anschein eines Handbuchs für Kaffeeliebhaber gab. Zajac gibt mit spielerischer und ironischer Übertreibung den LeserInnen zum einen Ratschläge, wie man sich eine bestimmte Kaffeesorte am besten schmecken lässt, zugleich nimmt er mit den Gedichten Bezug auf die kulturellen und politischen Bedingungen in dem Land, nach dem die betreffende Kaffeesorte benannt ist. Er schafft so einen eindrücklichen Kontrast zwischen der Assoziation der entspannten Pause zum „Kaffeechen“ und den dramatischen Ereignissen, die sich in seinem Ursprungsland abspielen. Außerdem verknüpft er jeden Text mit der Erwähnung eines fiktiven Sponsoren desselben und führt so die Hegemonie ökonomischer Beziehungen im kulturellen Bereich ad absurdum. Ohne Beachtung seines ursprünglichen Konzepts ist mithin der Band Kapitalistické básně (Kapitalistische Gedichte, 2012) von Klement Václav Lakatoš kaum lesbar – Jan Kubíček, der sich hinter diesem Pseudonym verbirgt, nannte seine Methode semiotischen Terrorismus; so gibt er Gedichten beispielsweise die Form von Quizfragen, um den Leser in ein Diskursspiel hineinzuziehen, dessen Ziel es ist, die Machtmechanismen zu enthüllen, die mit dem Gebrauch von Sprache verbunden sind. Ein klarer Fall von konzeptuellem Schreiben ist ein Sammelband „Diskussionsgedichte“ mit dem Titel 3,14čo (2013) von Michal Šanda, Petr Štengl und Jakub Šofar, der nach dem Prinzip von ready mades kreiert wurde und Ausschnitte aus Internetdiskussionen als Gedichte präsentiert. Als Ergebnis eines literarischen Konzepts kann man auch die Gedichtsammlung Mraky (Wolken, 2010) von Pavel Novotný fassen, der sich im Übrigen – zusammen mit Jaromír Typlt – eher mit Experimenten im intermedialen Bereich befasst bzw. mit Veranstaltungen oder Installationen im öffentlichen Raum (wie z.B. im Projekt Tramvestie). Das Konzept von Novotnýs Mraky beruht auf einer transmedialen Übertragung von gesprochenem Wort in poetischen Text und zugleich auf einer kollektiven Form von Autorschaft: Das Ausgangsmaterial bilden Gesprächsaufzeichnungen von Menschen (Unbekannten und literarischen Freunden), die der Autor bat, sich auf die Erde zu legen und den Himmel zu beschreiben, den sie über sich sahen; ihre Antworten versah er mit genauen Zeit- und Ortsangaben, fasste sie in Versform und bildete daraus die Gesamtkomposition des Bands.

Weder die Strömung der engagierten Poesie, noch die konzeptuelle Richtung sind aber in der zeitgenössischen tschechischen Poesie Sache eines generationell oder durch Gruppenzugehörigkeit begrenzen Autorenkreises. Sie durchdringen die ganze literarische Kultur und sind außerdem Teil der im weitesten Sinne kulturellen und gesellschaftlichen Bewegungen, die aus wachsender Unzufriedenheit heraus entstanden sind, die Frage nach Systemalternativen aufwerfen und das Bedürfnis offenbaren, den immer stärkeren Einfluss digitaler Medien auf die zwischenmenschliche Kommunikation kritisch zu reflektieren.

Diese Tatsache lässt sich sehr gut anhand der Sammlung Darmata (2012) von Petr Hruška aufzeigen, die man schwerlich als engagierte Poesie bezeichnen kann oder gar als Beispiel für konzeptuelles Schreiben – es handelt sich vielmehr um ein hochwertiges Produkt aus der „Mainstream“-Linie der dichterischen Sachlichkeit und Deskriptivität. Genau dieses Buch enthält aber Aspekte beider Tendenzen: Nicht zu übersehen ist die Verärgerung, mit der Hruška in seiner Sammlung die Welt des Geldes und der Banken erwähnt oder gar skrupellose Wucherer und die Angst ihrer Opfer. Und Elemente konzeptuellen Schreibens sind in Darmata gleich in mehreren Texten zu finden, die Hruška unter Verwendung von Spam schrieb (bzw. appropriierte), wobei er sogar das holperige und unfreiwillig komische Tschechisch aus dem automatischen Übersetzungsprogramm stehen ließ.

Die Tendenzen der Engagiertheit, des Konzeptualismus und der Neoavantgarde sind selbstverständlich verknüpft und durchwirken die gesamte gegenwärtige tschechische Poesie. Mit den langen neunziger Jahren endete auch die radikale postmoderne Pluralität nicht zu verbindender Einzelner – Teilströmungen und Teiltendenzen hängen zusammen, sind aufeinander bezogen und lassen eine Gesamtbewegung der Poesie als künstlerischer Gattung erahnen. Vielleicht auch deswegen ist die Poesie in Tschechien heute ein Bereich mit großem Potential und Vitalität, mit einem großen Vorrat angesammelter Energie, die die Schreibenden allerdings nur vorsichtig an sich heranlassen. Sie wollen Veränderung, aber möglichst ohne das Risiko, durch Experimente mit neuen Herangehensweisen Explosionen zu verursachen. Gemeinsamer Nenner der beiden Richtungen ist die Subversion, der Wille, erstens das herrschende sozio-ökonomische System, zweitens die ausgetretenen literarischen Pfade infrage zu stellen. Zusammen bilden sie demnach die Strömung der neuen literarischen Subversivität.

[1]     Die Skupina 42 (Gruppe 42) entstand auf der Basis eines Freundeskreises von Malern (František Gross, František Hudeček, Kamil Lhoták u.a.) und Dichtern (Ivan Blatný, Jiří Kolář, Josef Kainar u.a.) Ende des Jahres 1942. Das programmatische Ideal der Gruppe, welches der Literatur- und Kunsttheoretiker Jindřich Chalupecký formulierte, bestand darin, die Abgeschlossenheit der modernen Kunst zu überwinden, unmittelbare Beziehungen zur alltäglichen Realität herzustellen und einen authentischen Ausdruck existenzieller Themen zu entwickeln. Die Poetik der Gruppe charakterisieren Prosaisierung von Versen, Nüchternheit im Ausdruck, Umgangssprache, Fragmentarisierung von Themen, aber auch durch das Bemühen, einen neuen Mythos von Alltäglichkeit zu erschaffen. Die Gruppe 42 verschwand nach dem Antritt des Kommunismus im Jahr 1948.
[2]     Dabei beteiligte sich die Gruppe Fantasía maßgeblich an der an Bedeutung zunehmenden Entwicklung hin zur performativen Poesie. So fanden eine Reihe von Gruppenperformances statt, für welche Fantasía mit progressiven bildenden KünstlerInnen und MusikerInnen (Darina Alster, Miki discjockey) zusammenarbeitete.
[3]     Die hier erwähnten Gedichtbände sind nicht auf deutsch erschienen, weshalb es sich bei den Übersetzungen der Titel um vorläufige Hilfsübersetzungen handelt (Anm. d. Ü.)
[4]     Großes Standard-Konversationslexikon, entstanden Ende des 19. Jahrhunderts, Anm. d. Ü.
[5]     Insofern 3,14 der Wert für die Zahl π ist, ergibt sich der Kraftausdruck „píčo“ in der Anredeform. Auch Rechtschreibtrick aus Internetforen (Anm. d. Ü.)

Karel Piorecký (*1978) ist Literaturhistoriker und Kritiker. Er studierte Bohemistik und Germanistik an der Pädagogischen Fakultät der Prager Karlsuniversität und promovierte an der Südtschechischen Universität České Budějovice in Bohemistik. Er ist tätig am Institut für tschechische Literatur der Wissenschaftsakademie und beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit der tschechischen Poesie des 20. Jahrhunderts sowie dem Verhältnis von Literatur und Neuen Medien.

Er publizierte die Monographie Česká poezie v postmoderní situaci (Die tschechische Poesie in der Postmoderne, 2011), Beiträge in Dějiny české literatury 1945–1989 (Geschichte der tschechischen Literatur 1949–1989, 2007–2008), V souřadnicích volnosti (Die Koordinaten der Freiheit, 2008), Přehledné dějiny české literatury 1945–1989 (Übersichtliche Geschichte der tschechischen Literatur, 2012) und Slovník české literatury (Glossar der tschechischen Literatur, www.slovnikceskeliteratury.cz).

Er ist außerdem Mitautor des Buches Praha avantgardní (Avantgardistisches Prag, 2014). Zusammen Mit Karel Šiktanc gab er die Anthologie Die besten tschechische Gedichte 2009 (2009) heraus. Er lebt in Prag.

Wir danken dem Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds, dem Goethe-Institut Prag und dem Literarischen Informationszentrum Bratislava für die Förderung des Beitrags.

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