Babelsprech International: Slowakische Poesie

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Junge Dichtung gibt es in allen Ländern und wir wissen viel zu wenig davon. Gemeinsam mit dem Hilda Magazine, dem US-amerikanischen Magazin Full Stop und der holländischen Seite Samplekanon haben wir uns auf die Reise gemacht und unsere Suchaugen ausgeworfen. Nach Beiträgen über Finnland und Brasilien (hierhier und hier) und einem Essay über das lyrische Ich im Internet (auch in deutscher Übersetzung) freuen wir uns sehr, nun einen Einblick in die slowakische Poesie geben zu können. Der Essay von Jaroslav Šrank ist bereits bei Displey erschienen, einer Kooperation von Randnummer und psí víno (Redaktion Peter Dietze und Buddeus). Ihnen allen sei an dieser Stelle herzlich für die Erlaubnis gedankt, den Artikel auch auf babelsprech.international zu veröffentlichen!

 

Kontexte und Konturen der neuen Entwicklungen in der Slowakischen Poesie.
Feldnotizen
von Jaroslav Šrank
übersetzt von Lena Dorn

 

Möchte man wissen, welchen inneren Zusammenhängen die vielversprechenden Entwicklungen in der aktuellen slowakischen Poesie entspringen, ist es sinnvoll, den Blick zur Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert zu richten. Diese Schwelle brachte zwar keinen derart revolutionären historischen Umbruch für das literarische Geschehen mit sich wie der Sturz des kommunistischen Regimes 1989. Aber seit dem Ende der 90er Jahre häufen sich Phänomene, die letztendlich in die grundlegend neue Form der Literatur münden, wie wir sie heute kennen.

Die Slowakische Literatur der 90er Jahre war noch stark von Grundsätzen gekennzeichnet, die für die vorangegangene Phase typisch gewesen waren. Dies betraf insbesondere den Literaturbetrieb, in welchem nach wie vor Ideologie eine große Rolle spielte. Die herrschende Politik, über die slowakischen Grenzen hinaus als Mečiarismus [nach Vladimír Mečiar, Ministerpräsident der Slowakei in den 1990er Jahren, Anm. d. Ü.] bekannt, versuchte erneut, SchriftstellerInnen an repräsentative Aufgaben zu binden, ersetzte lediglich die kommunistische Ideologie durch eine nationale. So fand eine Integration der Literatur statt (im Sinne der Anbindung an unterschiedliche in- und ausländische Ideen- und Ästhetiktraditionen), zugleich aber eine neue Grenzziehung zwischen regimetreuen und unabhängigen SchriftstellerInnen. Im Lichte dieser Gegenüberstellung nahmen viele SchriftstellerInnen auch andere wichtige Gegenwartsphänomene wahr (wie etwa die Kommerzialisierung der Kultur). Eine grundlegende Entpolitisierung begann erst nach den Wahlen im Jahr 1998, die das Ende des Mečiarismus einläuteten. Seither werden die Impulse für die slowakische literarische Kultur eher von der kulturell-zivilgesellschaftlichen Sphäre bestimmt. Die Literatur muss nun einen Umgang mit ihrer Existenz im globalisierten Rahmen finden, mit der Dominanz der kommerziellen Kultur und mit dem Durchbruch der Informationstechnologien und digitalen Medien in allen Lebensbereichen.

Die meisten Werke aus der Zeit um die Jahrtausendwende lassen sich konzeptuell vier Entwicklungslinien zuordnen, wodurch die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den Aktivitäten der etwa seit Ende der 80er Jahre neu erscheinenden DichterInnen und Poetiken deutlich werden. Die ersten beiden, die Poesie des nonkonformen Individualismus und die Poesie des Privaten, formierten sich noch unter den Bedingungen des kommunistischen Regimes. In den 90er Jahren entstanden zwei weitere, zunächst die spirituelle Poesie, dann die experimentell-dekonstruktive Poesie. Mit Ausnahme der letzteren hatte die Poesie jener Zeit einen Subjektivismus zur Grundlage, der sowohl durch die thematische Verankerung des lyrischen Subjekts in der konkreten Erfahrung, als auch durch die Arbeit mit anerkannten Ausdrucksmitteln hervortrat, indem diese einer betonten Stilisierung des Dichtersubjekts entsprachen. Die expressive Poesie des nonkonformen Individualismus (J. Urban, I. Kolenič, P. Bilý) ging vom Konflikt zwischen dem freiheitlich denkenden Subjekt und der Mehrheitsgesellschaft aus und knüpfte insbesondere an den poetischen Gestus der Beatniks an. Die sehr viel nüchternere Poesie [der in Tschechien und der Slowakei gebräuchliche Begriff der „zivilen“ Poesie wurde zur besseren Verständlichkeit durch den der „nüchternen“ ersetzt, Anm. d. Ü.] des Privaten (M. Brück, M. Hatala, M. Vlado) reflektierte Alltägliches, wobei die Autoren sich auf überzeitliche, traditionelle Werte zu stützen suchten. Die spirituelle Lyrik (E. J. Groch, R. Jurolek, M. Milčák) war im Prinzip eine reflexiv-philosophische Poesie, die in nüchterner oder allegorisch-mythologischer Form das Leben aus der Sicht des christlichen Glaubens spiegelte. Impulse erhielt sie aus weltweiten Quellen konfessioneller und meditativer Poesie.

Es dominierte also eine Vorstellung von Poesie als Werkzeug eines authentischen Ausdrucks des autonomen Subjekts. Bald jedoch tauchten auch DichterInnen auf, die sowohl Zweifel an der so hoch bewerteten subjektiven Empirie, als auch an den kommunikativen Fähigkeiten der Literatur hatten. AutorInnen der experimentell-dekonstruktiven Poesie ließen sich von ausländischen künstlerischen (Post-)Avantgarden inspirieren, reagierten auf Impulse der (post)modernen Philosophie, namentlich des französischen (Post-)Strukturalismus, und verarbeiteten mintunter auch popkulturelle Importe. Ihre Publikationsorgane waren vor allem die Zeitschrift Vlna und der Verlag Drewo a srd. In ihren Werken problematisierten sie die selbstverständliche Verbindungslinie vom lyrischen Subjekt zu seiner Aussage über Lebensrealitäten und zogen traditionelle poetische Themen, eingefahrene Ausdrucksmittel und erfahrungsbasierte Rezeptionskonventionen in Zweifel. Sie bauten auf die diskursive Entblößung der Grenzen und Fallen literarischer Kommunikation, ja sogar der Sprache im Allgemeinen. Typisch für ihren Ansatz waren Subversion, intellektuelle Spiele, Parodie u.ä.

Diese Art von Poetik wurde bald als anästhetische attributiert. Es war Peter Macsovszky, der sie in den Sammlungen Strach z utópie (Angst vor Utopie, 1994) und Ambit (1995) einführte. Seine Experimente, die unter anderem an Dada, Konzeptualismus und Minimalismus anknüpfen, fasste er in eine Genreform, die er „steril“ nannte. Sie ist charakterisiert durch demonstratives Vermeiden von Themen aus der Sphäre des konkreten Erlebens, einem Textaufbau nach der Art von Montage, Kollage, Ready-mades und Assemblage sowie auf der Ausdrucksebene durch wissenschaftliche Begriffswahl. Als Material für seine Textinstallationen verwendet er Fachjargons und populärwissenschaftliche Beschreibungen und Erläuterungen. In neuer Anordnung und übertragen in den Kontext künstlerischer Kommunikation bringen sie in bizarren, paradoxen oder gar ausweglosen Bedeutungskonstellationen die Unadäquatheit, Uneindeutigkeit und sogar Unzuverlässigkeit der Sprache als Medium von Verständigung und Erkenntnis zum Ausdruck. Die Gedichte haben oft selbstreferentiellen Charakter und demonstrieren (selbst)ironisch die Absurdität dichterischer Konventionen. Macsovszkys Ausgangspunkt (inspiriert u.a. durch Foucaults Die Ordnung der Dinge) war die Reduktion des kommunikativen Gehalts der Gedichte auf eine Aussage über die Unmöglichkeit jeglicher Aussage. Einen philosophischen Einschlag erhielten sie gerade durch Distanz und Witz, wodurch das Versagen der menschlichen Versuche, die Welt zu „redigieren“, zum Ausdruck kommt.

Andere AutorInnen widmeten sich eher der Reflexion des gegenwärtigen gesellschaftlich-kulturellen Geschehens. In dieser Richtung sind die Werke von Peter Šulej (z.B. Návrat veľkého romantika [Die Rückkehr des großen Romantikers], 2001) und Michal Habaj (z.B. Korene neba. Básne z posledného storočia [Himmelswurzeln. Gedichte aus dem letzten Jahrhundert], 2000) repräsentativ. Statt den Wahrheitsgehalt konkreter Erfahrung unablässig anzuzweifeln, verarbeiten sie die Ambivalenz des Lebens in postindustriellem Zeitalter, Konsumgesellschaft und einer Welt, in der die Realität von der Virtualität übertroffen wird. Sie arbeiten mit einer doppeldeutigen, romantisch-parodistischen Stilisierung des Subjekts zum Cyborg, der eher Produkt als Benutzer der neuen Technologien ist. Dem entspricht auch die digitalistisch-technisierte Bildlichkeit ihrer Poesie.

Ende der 90er Jahre erschien Nóra Ružičkovás introspektives Debüt Mikronauti (Mikronauten, 1998). Ihre Poesie mit experimentell-dekonstruktiver Tendenz verbindet, dass sie nicht nur das Subjekt problematisiert, sondern auch seine Verständigung mit der Welt wie auch die Funktionsweisen künstlerischer Kommunikation. Ihre Selbstreflexion zielt darauf ab, die menschliche Identität als ontologisch unstete herauszustellen, ergänzt durch Bilder einer fluiden Erscheinungsform der Welt sowie durch Spiele mit der Doppeldeutigkeit, Suggestivkraft und Unverlässlichkeit der Medien, mithilfe derer sich der Mensch artikuliert. Ružičková ist zugleich bildende Künstlerin, ihre literarische Arbeit beinhaltet Verweise auf visuelle Kunst sowie Anleihen aus Verfahren der Aktions-, Prozess- und Konzeptkunst, Pop-Art und Multimedialität. Ihr Werk ist zudem beeinflusst von feministischer Philosophie und Psychoanalyse.

Außer den genannten gab es am Rande noch weitere experimentell arbeitende Autoren (Marián Kubica, Kamil Zbruž). In Hinblick auf die eher bescheidene Vergangenheit radikaler Experimente in der slowakischen Lyrik stellte die Stabilisierung einer solchen dichterischen Vielfalt im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts eine ganz neue Situation dar. Dazu gehört auch, dass die Werke einiger weniger Vorgänger zugänglich gemacht wurden. Experimentell im klassischen Sinn einer konkreten, lautlichen oder visuellen Poesie arbeitete in der Slowakei eigentlich nur Milan Adamčiak, der sich ab den 60er Jahren an der Grenze von Musik, bildender Kunst und Literatur bewegte. Seine visuelle Poesie, grafischen Partituren und anderen Werke erscheinen derzeit gesammelt unter dem Titel Archiv, seit 2012 (bislang zwei Bände). Das breite Schaffen von Jozef Klátika und Jaroslav Supek, die einer slowakischen Enklave in der serbischen Vojvodina angehören und in den 70er Jahren experimentelle, vor allem intermediale Methoden verwendeten, ist auch in der Slowakei bis heute nur ausschnitthaft bekannt. In jedem Fall trägt jedoch das Hervorholen solcher älteren Werke zur Stärkung des Bewusstseins über alternative Möglichkeiten der Poesie entscheidend bei.

Zudem erlebte die slowakische Literatur in jüngster Zeit, an der Wende zwischen nuller und zehner Jahren, insgesamt eine rasante Innovation der digitalen Medien, die eine bessere Zugänglichkeit herbeiführt. Insbesondere die Formen von Literaturpräsentation im Internet erweiterten und verbesserten sich eklatant. Soziale Netzwerke wurden zu einem zentralen Faktor der literarischen Öffentlichkeit. Das globale Kommunikationsnetz ermöglicht es, fast uneingeschränkt alternative Kunst aus Vergangenheit und Gegenwart beinahe überall auf der Welt kennenzulernen. Die virtuellen Anknüpfungspunkte verwandeln sich mitunter auch in direkte Kontakte von slowakischen mit ausländischen, vor allem tschechischen, Literaturschaffenden. Im Rahmen dieser Veränderungen vergrößerte sich auch das Publikationsumfeld der unkonventionellen Literatur um die Zeitschrift Kloaka und die Verlage Ars Poetica, Dive Buki und Literis, weitere Möglichkeiten bietet das Portal www.membrana.sk sowie das Festival Siete und einige tschechische Plattformen (z.B. die Zeitschriften Psí víno, A2).

In diesem Zusammenhang erweiterte sich auch die Autorenbasis der experimentellen Poesie. Zunächst wurden die Werke von Agda Bavi Pain (mit seinem Debüt Kosť & Koža [Haut & Knochen] 2002) und Katarína Kucbelová (mit ihrem Debüt Duály 2003) in der Öffentlichkeit wahrgenommen. Etwa zehn Jahre später waren es wohl Michal Rehúš und Zuzana Husárová, die am meisten Aufmerksamkeit auf sich zogen. Rehúš etablierte sich als Publizist, Kritiker und Redakteur und ist Anhänger alternativer Strömungen, vor allem konzeptuellen Schreibens, Husárová initiierte insbesondere neue Präsentationsmöglichkeiten (post)digitaler multimedialer Literatur.

Auch die Schaffensprinzipien veränderten sich. Zu einem Trend wurde die programmatische Einbindung von digitalen Technologien und Multimedialität nicht nur bei der Präsentation von poetischen Texten, sondern auch im Rahmen des eigenen Schaffensprozesses. Dabei handelt es sich nun nicht um eine völlige Neuheit. Transmedial oder multimedial arbeiteten AutorInnen bekanntlich bereits in den 90er Jahren (z.B. Macsovszky, Ružičková) und auf dem Prinzip kollektiven Schreibens basierende Texte veröffentlichten M. Habaj, A. Hablák, P. Macsovszky und P. Šulej unter dem Namen Generator X (später Generator x_2) auch schon Ende des letzten Jahrhunderts. Zuzana Husárová war neben anderen auf diesem Feld besonders aktiv. Gemeinsam mit dem Programmierer und Musiker Ľubomír Panák kreierte sie mehrere interaktive Werke, die im Internet zugänglich sind, darunter intermediale Installationen und Performances. Mit der Malerin und Musikerin Amalia Roxana Filip widmet sie sich multimedialen Arbeiten. Auch die Bücher liminal (in der englischen Version 2012, in der slowakischen 2013) und lucent (2013) sind Teil derartiger Projekte. Die Buchfassungen basieren auf einer Kombination von verbaler und visueller Sprache, weitere Dimensionen sind Lautpoesie und synkretistische Performance (ebenfalls im Internet zugänglich). Husárovás Interesse gilt der durch Technologien entfremdeten Artikulation der in den Menschen wabernden, nicht selten elementaren Gefühle und Gedanken, sowie dem Umgang mit dem individuellen physischen Erleben der äußeren Realität, welche die Materialität der gewählten Sprache(n) betont.

Neben dem Rausch der technischen Möglichkeiten erstarkte auch das Interesse an individueller Identität und existenziellen Fragen. P. Macsovszky zum Beispiel durchsetzt im Band Klišémantra (2005) ironische Kommentare zum systematischen Versagen verschiedener (wissenschaftlicher, künstlerischer, moralischer usw.) Systeme mit grotesken Bildern der tagtäglichen Degeneration, des physischen und mentalen menschlichen Scheiterns. Die Werke Beztvárie (Gestaltlose, 2004) von N. Ružičková und Michal Habaj (2012) von Michal Habaj können als Experimente mit den poetischen Möglichkeiten, Vielfalt und Unverständlichkeit des eigenen Ichs zu erforschen, verstanden werden.

Ein dritter hervorstechender Trend ist die thematische Konkretisierung im Bereich kultureller und gesellschaftlicher Phänomene mithilfe von Motiven, die ganz unverblümt auf aktuelle Ereignisse und Probleme nationalen oder globalen Ausmaßes verweisen. Besonders augenfällig ist die Unzufriedenheit mit konsumistisch, technokratisch und individualistisch orientierten gesellschaftlichen Praxen; es werden etwa ökologische Probleme thematisiert (Mária Ferenčuhová: Ohrozený druh [Bedrohte Art], 2012) oder gesellschaftliche Spannungen und Gewaltverhältnisse, Intoleranz und Rassismus illustriert (Katarína Kucbelová: Vie, čo urobí [Sie weiß, was sie macht], 2013; Marcela Veselková: Identity [Identitäten], 2013). Eine spezifische Form der Gesellschaftskritik sind satirische Gedichte, die auf Lücken und Makel im Renommee zeitgenössischer LiteratInnen (und anderer KünstlerInnen) abzielen, im schroffen Gegensatz dazu, wie sie sonst im Literaturbetrieb auftauchen. In dieser Richtung arbeiten vor allem Vlado Šimek (Modlitba za Felvidék [Gebet für Felvidék], 2013) und Michal Rehúš.

Rehúš‘ Debüt, Program dekomunikácie (Programm der Dekommunikation, 2011), geht von konzeptuellen Inspirationen aus und variiert in vielerlei Hinsicht das bereits durch P. Macsovszký im slowakischen Raum etablierte Vorgehen. Sein Leitmotiv ist der Zweifel an der Sprache als verlässliches Kommunikationsmedium, was er durch bizarre Ausdrucksweisen, Juxtaposition und Kontaminierung von Sprachen, die in verschiedene Sphären gehören, sowie absurde Text-ready-mades (oftmals Instruktionen, Bedienungsanleitungen u.ä.) demonstriert. Zielscheibe ist dabei vor allem die missbrauchte Sprache, die Sprache als Machtwerkzeug. Eine ähnliche Stoßrichtung weisen auch andere zeitgenössische Werke auf, darunter die Debüts von Erik Šimšík, Monorezeň & Stereozemiaky (Monoschnitzel & Stereokartoffeln, 2013), und Daniela Olejníková (auf dem Buchumschlag absichtlich fehlerhaft als Daniela Olejnikov), KUR#Z praktickej poézie pre pokročilých (KUR#S der praktischen Poesie für Fortgeschrittene, 2013). Šimšík holt sich Inspirationen von den historischen Avantgarden und der dadaistischen Negation jeglichen Sinns und Zwecks, Olejníková arbeitet destruktiv mit der Rhetorik von Kursen zur Persönlichkeitsentwicklung, Wirtschaft, Werbung, Kunstkritik usw. Es scheint also, als empfänden mehrere AutorInnen die tägliche Bedrohung der Autonomie des einzelnen Menschen durch die allgegenwärtige Maschinerie der medialen Konsumgesellschaft als ein Schlüsselproblem. Auch N. Ružičkovás konzeptuelles Buch práce & intimita (arbeit & intimität 2012) lässt sich aus dieser Perspektive betrachten. Es besteht komplett aus der Aneignung, Bearbeitung und Rekontexutalisierung von Äußerungen (Empfehlungen, Rezepten, Anleitungen) aus populären Magazinen, in denen stereotype Weiblichkeitsbilder reproduziert werden. Das Ergebnis ist nicht nur eine Demaskierung von Medienmacht und Mediengeschwätz, sondern auch eine durch die humorvolle Verarbeitung erlebbare Wiederherstellung von freier, kreativer Identität.

Die Geschehnisse in der slowakischen Poesie weisen auf der Suche nach neuen Verknüpfungen mit der Gegenwart augenscheinlich eine hohe Dynamik auf und sind relativ ausdifferenziert. Man könnte sie meines Erachtens auch klassifizieren: Hier paart sich Erfahrung mit Mut, dort sind es eher aufgewärmte Herangehensweisen aus dem bereits zugänglichen Bestand, dies sind noch die ersten ausgeprägten Versuche, die pulsierende Gegenwart in den Griff zu bekommen, jener Weg erweist sich als zu eng, während dort bereits größere tektonische Einheiten in Bewegung geraten. Aber vorhersagen zu wollen, wer wohin geht und über welche Hindernisse, erscheint unangebracht. Die Untersuchung wird fortgesetzt.

 

Jaroslav Šrank (*1975 in Bratislava) beschäftigt sich besonders mit der Analyse, Interpretation und Kritik zeitgenössischer slowakischer Poesie. Er veröffentlichte in slowakischen und internationalen Fachzeitschriften sowie verschiedenen Sammelbänden. Tätig am Institut für slowakische Sprache und Literatur der Komenský-Universität in Bratislava, wo er Seminare zur slowakischen Literatur der zweiten Hälfte 20. Jahrhunderts gibt.

Er war Redaktionsmitglied der Literaturzeitschrift Romboid. Beiträge u.a. in Dejiny slovenskej literatúry III (Geschichte der slowakischen Literatur III, 2004 und 2006, V. Marčok et al.) und Slovník slovenských spisovateľov (Lexikon slowakischer Schriftsteller, V. Mikula et al., 2005). In Buchform erschienen von ihm Autorské texty s folklórnou dimenziou (Autorentexte mit folkloristischer Dimension, 2009), die literaturwissenschaftliche Studie Nesamozrejmá poézia (Unselbstverständliche Poesie, 2009) und die Monografie Individualizovaná literatúra. Slovenská poézia konca 20. a začiatku 21. storočia z perspektívy nastupujúcich autorov (Individualisierte Literatur. Slowakische Poesie vom Ende des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts aus der Perspektive des Autorennachwuchses, 2013). 

 

 

Wir danken dem Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds, dem Goethe-Institut Prag und dem Literarischen Informationszentrum Bratislava für die Förderung des Beitrags.

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