Babelsprech International: Ich, mit großem I (deutsche Fassung)

In Babelsprech.International by Oravin1 Comment

Junge Dichtung gibt es in allen Ländern und wir wissen viel zu wenig davon. Gemeinsam mit dem Hilda Magazine, dem US-amerikanischen Magazin Full Stop und der holländischen Seite Samplekanon haben wir uns auf die Reise gemacht und unsere Suchaugen ausgeworfen. Nach Beiträgen über Finnland und Brasilien (hierhier und hier) stellte unser Gastautor Harry Crews die Grundstruktur dieser Reihe in Frage. Sein englischsprachiger Essay liegt nun auch in deutscher Übersetzung vor.

 

Ich, mit großem I

von Harry Burke
aus dem Englischen von Oravin

Im Jahr 1972 las Marjorie Perloff während ihrer Vorbereitungen zu einer Rundschau über die Dichtung der letzten zwei Jahre Ron Padgetts und Dave Shaoiros Anthologie Anthology of New York Poets (1970), die auch einen Abschnitt mit Gedichten Frank O’Haras enthält. O’Hara war ein marginalisierter Autor und noch 1979 wurde er im Times Literary Supplement trotz seines „excellent personal taste“ dem „late Victorian camp“ zugerechnet. Perloff teilte diese Einschätzung nicht und veröffentlichte 1977 mit Frank O’Hara: Poet Among Painters ihren Versuch, Frank O’Hara als einen ernstzunehmenden Dichter zu lesen. Was seine Kritiker nicht verstünden, argumentierte sie, sei das Ausmaß, in dem O’Hara mit der symbolistischen Dichtungstradition gebrochen habe. O’Hara benutzte Wörter nicht als Werkzeuge, wie es sich in der modernen Dichtung durchgesetzt hatte – als Zeichen, die Gefühle ausdrücken -, sondern durchzog seine Gefühle mit dem Material sowohl seiner Welt als auch seiner Dichtung. In einem gleichzeitigen Schreiben der Gegenwart war er gleichsam Mitautor von Gefühlen, Welt und Dichtung. Die Wörter selbst wurden ihm zu Gefühlen.

Perloffs Interpretation von O’Hara war vorausschauend und legte den Grundstein für viele der folgenden und immer noch gegenwärtigen Dichtung. Was Perloff beschrieb, war eine Bewegung weg von einer Idee von Sprache, die bereits bestehende Bedeutung verkörpert, hin zu einer Idee von Sprache, die, durch ihr Gesprochenwerden, Bedeutung in Aushandlung mit anderen bereits bestehenden Objekten und Körpern erzeugt. „I am stuck in traffic in a taxicab / which is typical / and not just of modern life“, so beginnt „Song“ von 1960. Im Verkehr festzustecken geht dem Gedicht nicht voraus und inspiriert es nicht, es ist Teil des Gedichts. Es ist eine Poetik des Ausdrucks, eines Konstruierens des Augenblicks im Augenblick; ich spreche, deshalb existiert all das Zeug.

Das klingt, rückwirkend gelesen, ähnlich wie Judith Butlers Ideen des performativen Selbst. Butler argumentiert, dass sich das verkörperte Selbst durch seine Handlungen und Sprachakte konstituiert. Wie sie in Bodies That Matter schreibt, „within speech act theory, a performative is that discursive practice that enacts or produces that which it names”. In der Dichtung gilt dasselbe. Allerdings geschieht die Materialisierung des Selbst nicht von selbst, sondern in beständigen (und gewaltsamen) Aushandlungsprozessen mit der Macht. In Butlers Worten besteht “an original complicity of power in the formation of the ‚I'“

In diesem Text möchte ich einige der Implikationen aufzeigen, die die Bildung des „Ich“ („I“) in der gegenwärtigen Dichtung begleiten. Er ist Teil der Serie Babelsprech International, die von Lyrikszenen an bestimmten geographischen Orten berichtet. In der Geschichte der Dichtung ist eine Faszination mit „Szenen“ oder „Schulen“ deutlich spürbar. Sie garantiert die Einheit des dichterischen Auftretens. Wir müssen nur auf die heutige „alt lit“ (alternative Literatur) schauen, um die Formen der Selbstvermarktung und die darauf folgenden Streitigkeiten zu erkennen, mit der eine Bewegung die Aufmerksamkeit der Mainstreammedien auf sich lenken kann. In einem Augenblick jedoch, da geographische Orte von den neuen Karten der Computertechnologien und sozialen Medien herausgefordert werden, mit all den neuen Arten des Austausches und ihren Konversationsmöglichkeiten und Verflüssigungen, erscheint es sinnvoll, Szenen nicht vorschnell voneinander abzugrenzen. Ich möchte mich daher im Folgenden darauf konzentrieren, wie einige neue Kollaborateure der Macht – das industrielle Internet, soziale Netzwerke, neue Logiken der Vermarktung – das dichtende Selbst herausfordern und wie dieses Selbst wiederum die Kollaborateure der Macht herausfordern kann.

Eine Anmerkung noch, bevor ich beginne: der Ort des Selbst (oder der Selbste) ist in diesem Essay nicht das globale Netzwerk. Die globale Internetnutzung erweitert sich (langsam), aber viele der Gedichte, die wir preisen, entspringen immer noch den Finanzzentren des letzten Jahrhunderts, und ein Großteil ihrer Vertreter hat akademische Abschlüsse. Bestimmten wir den geographischen Fokus dieses Essays als „das Internet“, würden wir im Grunde die kulturelle Achse zwischen London, New York und Los Angeles meinen.

 

Digital Native Agents

Semiotext(e), heute an der Spitze der Rangordung radikaler Publikationen, wurde 1974 auf der Columbia University von Sylvère Lotringer gegründet. 1990 initiierte Chris Kraus eine neue Serie an Büchern von hauptsächlich weiblichen amerikanischen Erzählerinnen unter dem Titel Native Agents (die Serie, die kontinentale Philosophie in die Vereinigten Staaten eingeführt hatte, hieß Foreign Agents). In Native Agents publizierte Semiotext(e) Schriftstellerinnen und Schrifststeller wie Kathy Acker, Eileen Myles, Lynne Tillman, David Rattray und Kraus selbst.

Native Agents wird für seine Förderung eines persönlichen, anti-autobiographischen, „öffentlichen Ichs“ geschätzt, einer höchst subjektiven narrativen Stimme, die sowohl Antrieb als auch Köder der Serie wurde. In ähnlichem Territorium funktionierend wie die Performativität, die wir aus Perloffs Studie von O’Haras Werk herauslesen können, entwickelte die Serie eine fortschrittliche, feministische Erzählung in der ersten Person, in der die Erzählung aus dem Selbst des Autors genauso bestand wie aus jeder anderen Erzähltechnik. Wie Kraus in ihrem Roman von 1977, „I Love Dick“, beschreibt: „I think ok, that’s right, there’s no fixed point of the self but it exists & by writing you can somehow chart that movement.“ Was daraus hervorging war ein radikaler Neuaufbau von Vermittlung.

Es ist heute zunehmend schwierig, eine Beichtstimme in der ersten Person zu vermeiden, sei es in Fiktion, Kritik oder Dichtung. Wie Lucia Pietroiusti in ihrer Anthologie You Are Here: Art After the Internet notierte: „in the past few years, I have developed an increasing difficulty in writing in a tone that is not at once confessional and citational“, eine Beobachtung, die sie zurückführt auf „a form of performance of the self — postulated, in part, by the multiplicity of social media, the multiplication of technological devices through which they are made accessible, and the multiple self-fashionings that ensue“. Wenn die radikal subjektive Stimme die bestimmende Stimme in unserem Schreiben geworden ist, sollten wir die Motivationen unserer Kultur hinterfragen, die uns zu dieser Praktik geführt haben: die Technologien der Autorenschaft und die Verbreitung, die sie vereinfacht haben, und wie ihre Popularisierung die Kategorie des Radikalen beeinflusst. Kurz gesagt: bin „Ich“ noch da?

I Wish I Was Dead Everyday and Thats Not a Bad Thing If You Think of it As A Longing for A Fresh Rebirth“, schreibt Deanna Havas, eine in New York arbeitende Dichterin und Künstlerin, in den ersten Zeilen von Actual Person. Actual Person ist ein Gedicht (datiert Februar 2014), das siebzehn Seiten eines auf ihrer Webseite verfügbaren PDF umspannt und das diesen Sommer bei Social Malpractice auch gedruckt erscheinen wird. Aber Actual Person ist auch Havas selbst, oder versucht es zumindest zu sein. Das Cover enthält ein Selbstportrait, ein stark geschminkter entkörperter Kopf, idealisiert und mit Photoshop verfremdet, sodass er wie ein Cyborg aussieht, oder eine typische Software- oder Kosmetikwerbung. Die Mascara fügt sich in die Farben des gemusterten Hintergrunds, darüber nachlässig aufgetragene Photoshop-Airbrush-Striche, der Kopf ist haarlos. Das Coverbild erreicht die Grenzen der PDF-Seite nicht, es ist von einer Größe, die leicht mit anderen geteilt werden kann.

Das Gedicht selbst ist von alleinstehenden Aussagen konstruiert, die in einer beinahe satzzeichenlosen Auflistung gesammelt sind, Aussagen wie „I work at Best Buy“, „I Hate Outdated Software“ und „Damn, I really loved my peppermint chap too … *sigh*, it was a love so perfect, so true :)“. Die Anordnung der Aussagen erscheint beinahe willkürlich oder alogisch, wie ein Strom (oder ein Algorithmus). Was über die siebzehn Seiten hinweg Konsistenz bewahrt, ist die stete Rückkehr zum „Ich“. Auch wenn es in einigen Zeilen nicht enthalten ist („Are you a creative person? They say that creative people are also the most unethical people. What do you say?“), beginnt doch die Mehrheit der Zeilen mit einem Ich (I), fungiert es als ein Fixpunkt, der dem Gedicht den Rythmus und die nötige Konsistenz gibt, um in alle möglichen Arten von irrsinnigen, internet-flektierten Richtungen zu wandern. Die Logik dieser Komposition ist: alles kann passieren, solange es im Ich verankert ist.

Jede Zeile des Gedichts ist einer der drei folgenden Webseiten entnommen: The Experience Project, Whisper und Reddit AMA (ask me anything). Die Zeilen wurden ohne besondere Reihenfolge in ein Dokument kopiert, bis es die Autorin entschied, es handle sich um die passende Länge für ein Gedicht. Die Tatsache, dass das Gedicht aus den Aussagen anderer Leute zusammengefügt ist, so als hätte ein Bot gewisse Teile des Netzes durchforstet, bedeutet natürlich nicht, dass Havas Selbst, ihr „Ich“, in irgendeiner Weise weniger real oder aufrichtig ist als das im Gedicht konstruierte Selbst eines Romantikers wie O’Hara oder Wordsworth (oder auch eines Nicht-Romantikers wie Acker). Actual Persons ist ein Statement von Identität sowohl trotz als auch aufgrund seines Korpus von humorvollen, geliehenen Aussagen. Denn wenn wir Sprache verwenden, verwenden wir immer geliehene Sprache. Indem sie diese Eigenschaft bis zum Extrem ausreizt, hebt Havas die Arten von Zwang hervor, die unserem Sprachgebrauch und darüber hinaus unserer Identitätsbildung zu einem Zeitpunkt auferlegt werden, da immer mehr Aspekte unseres Lebens der Finanzlogik unterworfen werden. Was passiert, wenn wir unsere Sprache nie besitzen? Die Bekenntnisse in Whisper funktionieren so, dass sie dem Werbeertrag ebenso dienen wie sie den Bekenner entlasten; der Algorithmus bevorzugt Aussagen einer bestimmten Länge, die um das „Ich“ strukturiert sind. Indem sie diese Sprache nicht zugunsten einer „ursprünglicheren“ Sprache scheut, konstituiert sich Havas selbst sowohl in Bezug zu als auch gegen diese vermittelnden technologischen und politischen Faktoren. Wenn Aussagen existieren, nimm sie dir. Das Gedicht ist sich seiner Kolloboration bewusst.

Weder Identität noch Gedicht sind ursprünglich, sondern aus den Geschichtsschreibungen vorbestehender linguistischer Strukturen und Konventionen gebildet („‚picking up other people’s ideas like dead birds‘ can be replaced by an uncomfortable awareness that all writing is derivative“, wie Denise Riley in ihrem Essay „Lyric Selves“ schreibt). Keine Aussage gehört jemals ganz dir (obwohl Aussagen immer noch in Gefahr sind, angeeignet oder missbraucht zu werden). Was unsere gegenwärtige Situation etwas anders als frühere macht, ist, dass diese Geschichtsschreibungen, Strukturen und Konventionen uns per Fingerzeig verfügbar sind. Was es kompliziert macht, ist das Ausmaß, zu dem diese Bausteine des Selbst entweder von kommerziellen Interessen motiviert sind oder gar deren eigentliche Währung darstellen.

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Mit der Sprachvervielfältigung in den 0,4 Sekunden einer Internetsuche, verortet in einer kodierten Architektur, die selbst eine Form von Sprache ist (Java, Python, PHP), könnten wir meinen, der/die Dichtende (Mensch oder Bot) trete in ein neues goldenes Zeitalter ein, außerstande, seine eigene Dichtung zu vermeiden. Das ist der in den letzten zwanzig Jahren vieldiskutierte demokratische Traum: von Nicolas Bourriauds Behauptung, der DJ sei die neue Künstlergestalt par excellence, der Wiederverwertung und dem Remixen als kreativer Praxis, zu Kenneth Goldsmiths Behauptung, der Dichter müsse heute den Text nur aus den Archiven des Internets und der Medienindustrie neu anordnen. Soviel sei bereits geschrieben worden, so das Kredo, dass es nichts Neues mehr zu schreiben gibt. Gleichzeitig bleibt jeder Akt ein Schreibakt, da er ein Akt der Artikulation in einer überwiegend textlichen Umgebung ist. Gedanken wie diese wurden jüngst in Ausstellungen wie Poetry Will Be Made By All! in der Luma Foundation Zürich wiederholt. Diese Ausstellung, kuratiert von Goldsmith und Hans Ulrich Obrist, erklärte mit YouTube-hafter Leidenschaft, dass heute ein jeder Dichtung schreiben kann.

Die hier zugrundeliegende Geisteshaltung ist die Vorstellung, Dichtung sei freier als Kunst, da Gedichte nicht im selben Maß verwertet werden können wie Kunstobjekte. Sie können nicht in einem Markt für eine zählbare und schnell aufgeblähte Geldsumme verkauft werden. Und doch hat Joseph Beuys bereits vor der Erfindung des World Wide Web erkannt, „culture and economy are the same thing“, und Theoretiker*innen der „immateriellen Arbeit“ haben argumentiert, dass unsere Interaktionen und Affekte Kapitalverhältnisse ebenso produzieren wie jene Arbeit, die greifbarere Waren herstellt. Immaterielle Arbeiter*innen (Künstler*innen, Tweeter*innen, ein jeder) sind vor allem Produzent*innen von Subjektivität. Darüber hinaus ist diese Subjektivität die Ware jener Firma, mittels derer wir unsere privaten Nachrichten versenden oder Rezepte suchen. Richard Serra und Carlota Fay Schoolman erklären in ihrem Video Television Delivers People von 1973, „you are the product of television“. Das ist nach dem Aufkommen der sozialen Medien immer noch der Fall, und dass man nun zurückreden kann, bedeutet nicht, dass man sich so der Tatsache entzieht.

Es ist diese Welt, die Actual Person durchdringt, dessen Inhalt vom Druck, den eigenen Wert als Subjekt zu bewahren („I Want You To Rate My Body“) ebenso geprägt ist wie vom Versuch, ihm zu entfliehen. Wenn wir darauf durch Havas Prozess des Sammelns von im Internet gefundenen Texts aufmerksam gemacht werden, dann ist es dennoch auch eine grundlegendere Bedingung poetischer Produktion innerhalb dieser Orte oder im heutigen Gebrauch dieser Techniken. Mira Gonzalez, eine in Los Angeles lebende Dichterin, hat in einem Interview mit Shiela Heti bemerkt: „without having Twitter as a way to promote my writing I don’t think I would have gotten published in like 95% of the places I’ve been published“. Gonzalez‘ Twitter (sie verwendet zwei Accounts, @miragonz und @miraunedited) wurde als „a kind of poetry in and of its self“ beschrieben, und im Interview mit Heti erklärt sie, dass sie Twitter als eine Kunstform sieht, die Dichtung und Fiktion ebenbürtig ist. Diese Aussagen täuschen über die Erkenntnis hinweg, dass Dichtung ebenso in die Kapitalverhältnisse verwickelt ist wie die kommerziellen Plattformen sozialer Medien.

In Gonzalez‘ Dichtung ist es wieder das „Ich“, das die Logik der Komposition bestimmt. Im Gedicht „TODAY MY ALARM WENT OFF AT 12.30PM“ eröffnet der Buchstabe „I“ („Ich“) mehr als die Hälfte der Zeilen. Die Aussagen sind kurz und sachlich, Aussagen eines Subjekts, das statisch bleibt, während es von den angebotenen, von einem iPhone ermöglichten Erfahrungen und Emotionen umschwirrt wird. Die Welt, nicht die Dichterin, ist in diesem Gedicht am aktivsten: „I stayed in bed for over an hour / looked at things on my phone.“ Selbst die Vergangenheitsform von „looked“ anstatt dem Present Continuous von „looking“ suggeriert ein Überwältigtsein vom Content des Telefons, trotz seiner Banalität. Damit geht eine wohlbekannte, wenn auch unherleitbare Angst einher: „I felt slightly anxious about nothing in particular.“

In einem auf e-flux publizierten Essay, „The New Way of the World, Part I: Manufacturing the Neoliberal Subject“ nehmen Pierre Dardot und Christian Laval die Weisen auseinander, in denen das zeitgenössische Subjekt als ein „apparatus of performance and pleasure“ konstruiert wird, in Verhältnis zur allgemeinen Unternehmenslogik – die Logik einer Gesellschaft, in der Regierungen Unternehmen sind, die Anbieter öffentlicher Dienste Unternehmen sind, und selbst Individuen Unternehmen sind. Diese Beobachtung ist nicht allzuweit entfernt von der populären Diskussion von heutigen künstlerischen Produzenten als „Marken“; im Zweifelsfall resultiert diese Marktförmigkeit resultiert dann darin, uns gleichzeitig effizienter als auch leichter von der Marktlogik bestimmbar zu machen. Der Dichter hat die Freiheit, bis zum Nachmittag zu schlafen und im Bett liegenzubleiben, bis er Kaffee trinkt und Drogen nimmt. Es ist eine Freiheit, die auf einer Selbst-Regulierung im Verhältnis zur Mediensphäre beruht. Dardot und Laval schreiben, „The main innovation of neoliberal technology precisely consists in directly connecting the way a person ‘is governed from without’ to the way that ‘he governs himself from within.“ Die schwache Rebellion des Dichters besteht darin, Drogen zu nehmen, bevor das Internet (wie wir annehmen) es absegnet, wie Gonzales schreibt: „I asked a person on the internet if I should take drugs / I took drugs before the person had time to respond“. Die Antwort des Internet ist in diesem Fall beliebig; es zählt die Tatsache, dass die Dichterin sich zu fragen verpflichtet fühlt.

Das Selbst im Gedicht ist von der es umgebenden Welt überwältigt, aber es behält noch etwas Kontrolle über sie. Gonzalez wendet einen angedeuteten Mangel an Tätigkeit in eine Form der Tätigkeit – das Gedicht. Im Bett Drogen zu nehmen ist für das Kapital historisch gesehen nicht produktiv, obwohl es das vielleicht sogar ist, wenn man sein Telefon verwendet, oder zumindest, wenn man ein Gedicht darüber schreibt. Auf jeden Fall aber ist im Verhältnis zwischen dem Selbst und der Welt eine Arbeitsrelation eingeschrieben.

Havas nimmt die Schrottsprache des Internets und formuliert sie in einer Bejahung ihres Selbst als Nicht-Schrott neu. Gonzalez zeigt, dass selbst ein innerer Monolog oder tweetbarer Gedanke in derselben Art von Machtkampf gefangen ist. Gonzalez wünscht einen Abstand zwischen sich und der Welt („I want someone to pull my hair because I like the idea of someone / controlling my head without touching my head“), aber das ist letztlich nichts als ein Verlangen; ein poetischer Traum. Das Selbst und die Welt sind dasselbe. Das Gedicht untersucht seine eigenen Produktionsbedingungen und erkennt, dass das es produzierende Selbst gleichzeitig das Selbst ist, das es produziert.

Mira Gonzalez

h“I”-Definition

Wenn Dichtung eine Produktionsform ist, was produziert sie? Ein Gedicht, ein Subjekt, oder etwas Zusätzliches? In seinem Essay von 2004, „From Capital-Labour to Capital-Life“, stellt Maurizio Lazzarato eine ähnliche Frage, wenn er die Idee entwirft, dass das Leben eines Arbeiters vielleicht die primäre Arbeitsform geworden ist. Es dient ähnlichen Zwecken, dass wir die Abwanderung der Dichtung von der Druckseite hin zu kreativen Plattformen wie Twitter, Tumblr und, neuerdings, Webseiten wie New Hive begrüßen. Hört man nie auf zu arbeiten, dann hört man vielleicht auch nie auf zu schreiben. Für Lazzarato jedoch reguliert das Kapital dieses Leben nicht durch seine Formung des Subjekts, zumindest nicht direkt. Kapitalismus – verkörpert vom Unternehmen anstatt der Fabrik – erzeugt seine Subjekte durch Erzeugung ihrer Welten. Es ist die Logik von Disneyland, angewendet auf das Kaufen eines Schokoriegels in einer Weinbar, wo man nicht nur den Schokoriegel kauft, sondern auch die Erfahrung, die Fantasie davon wie es ist, einen Schokoriegel zu kaufen.

Wenn unser Leben unsere Arbeit ist und all unsere Interaktionen Dichtung sind, was bedeutet das dann für die Poesie? Wenn die Welt Teil des Subjekts ist, dann ist das Subjekt auch Teil der Welt. Seine Sprache ist teilweise von dieser Welt kontrolliert, aber es kann auch seinen Weg hinein in neue Welten sprechen. Gonzalez‘ Stimme ist gefangen zwischen einem Gefühl von Gefangensein in sie umgebende Machtstrukturen und einer Fähigkeit, sich dieser Macht zu verweigern, zumindest in ihren gegenwärtigen Formen. Vielleicht kann hier das „Ich“ als ein Ort des Ursprungs oder des Widerstands in die gegenwärtige Dichtung wiederkehren.

Aimee Heinemann ist eine in London lebende Künstlerin und Schriftstellerin, deren Schreiben, oft in Blogform auf ihrem Tumblr-Account veröffentlicht, das Selbst der Dichtung verwickelt, vervielfältigt und bricht, ohne jemals die Welten aus dem Blick zu verlieren, dessen Produkt dieses Selbst ist und gegen die es anspricht. „Narcissus didn’t love his own body, he loved a body of water“, schreibt sie in „Narcissus (Hi-Saturation)“. Der Wasserkörper, seine Spiegelung, ist auch die Welt, die seinen Körper bildet. Wir sind hyper-flüssige Subjekte, teils verortet in unserem physischen Körper (was auch immer das ist), teils verortet in den vielfältigen und flüssigen Körpern, die uns umgeben. Ein Selbstakt beeinflusst diese Welten um uns, auch, wenn uns unsere gesprochene Sprache an sie bindet. „The surface of the pool falls into a state of contingent subject-objecthood through the presence of Narcissus — this is a defence mechanism and a rare act of collective action on the part of the pool.“

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Wie lösen wir uns aus dieser Beziehung? Vielleicht müssen wir das gar nicht; das wird zumindest in Heinemanns Text suggeriert. Vielmehr sollten wir erkennen, dass diese Ketten  zwischen Selbst und Welt bereits gebrochen sind, gesplittert und chaotisch, selbst wenn sie gleichzeitig gewalttätig und bestimmend sind. „There are no fixed systems but every object has an image waiting to kill it, let’s fight for both sides“, schreibt Heinemann. Auch wenn dieses Schreiben nicht dieselbe Verwendung des „Ich“ hat, ist es doch eine Poetik, die auf einem Konzept des Selbst als sowohl performativ als auch performt beruht und dabei einen persönliche oder gemeinschaftlichen Ausweg aus einigen der Zwänge und Gefängnisse sucht, die es bilden. „The real 9/11 is inside of you“, schreibt Heinemann in einem anderen Text, „becoming-animal becoming-woman becoming-faggot becoming-optical fiber becoming-server farm becoming-rubble“.

Dies ist nicht so sehr eine Logik des „Sei der Wandel, den du in der Welt zu sehen wünscht“ als „Werde die Welt, die du verändern willst“. Der Unterschied ist fein, aber bedeutsam, er verschiebt den Nachdruck von der individuellen Rechenschaftspflicht zu einer zerbrochenen und kollektiven Ethik. Obwohl Dichtung ein Ort der Kollaboration mit der neuen Logik der Kapitalakkumulation ist, vermittelt durch das soziale Internet und immaterielle Arbeit, ist sie gleichzeitig der Ort, wo diese alternative Ethik beginnen kann, indem sie das Selbst, den Körper und die Sprache ebenso zusammenbringt wie andere Selbste, Körper und Sprachen und damit deren möglichen Verbindungen für die Zukunft entwirft.

Denise Riley stellt in „Lyric Selves“ die Frage: „are you speaking language, or is language speaking you?“, in einem Versuch, die Position des Selbst in der lyrischen Dichtung aufzuzeigen. Diese Frage ist jedoch nicht einfach binär, da offensichtlich beide Möglichkeiten stattfinden. Doch es ist eine Frage, die für die heutige Dichtung immer noch wichtig ist, da sie die Kolloboration der Dichtung mit verschiedenen um die Sprachstimme bestehenden Machtstrukturen heraushebt. Was die Schriften von Havas, Gonzalez und Heinemann nahelegen, um nur drei Beispiele zu nennen, ist, dass diese Frage sich vielleicht nicht nur auf Sprache konzentriert, sondern auch auf die Körper und Technologien, die sich ebenso im Sprachakt vollziehen. Sprichst du Sprache, Technologie, Körper, oder sprechen Sprache-Technologie-Körper dich?

In diesem Sinne verwirklichen sich diese Machtkollaborateure immer noch um das „Ich“ herum. Der Dichtung aber kann das zuträglich sein; es bedeutet, dass das „Ich“ ein Ort des Handelns und der Erfindung sein kann, selbst, wenn es gleichzeitig gefangen ist und sich allein fühlt. Je mehr es vielleicht andere Aspekte von Sprache, Technologie und Körper begrüßt, desto eher kann dieses „Ich“ Welten formen und nicht nur ein Selbst.

Harry Burke ist Schriftsteller und lebt in London. http://harryburke.tv.

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