Junge Dichtung gibt es in allen Ländern und wir wissen viel zu wenig davon. Mit der Reihe Babelsprech International wollen wir den babelsprech-Kreis junger deutschsprachiger Dichtung erweitern. Ricardo Domenecks im Frühling 2014 veröffentlichter, meisterlicher Artikel zur brasilianischen Dichtung liegt nun in deutscher Fassung vor. Die Gedichttexte wurden in der Sprache der jeweiligen Übersetzung belassen. Domeneck, Herausgeber von Hilda und Lyriker zwischen Brasilien und Berlin nähert sich mit angemessener Vorsicht einem Feld, das viel zu lange als ausschließlich Portugiesisch beschrieben worden ist. Aber Brasilien ist älter und jünger als die Geschichte portugiesischer Kollonisation, vor allem ist dessen Lyrik pluralistischer. Diese Vielfalt verfolgt der Autor in diesem Beitrag.
Zeitgenössische brasilianische Dichtung, im Singular:
einigen Zungen eine Stimme geben, hunderte zum Schweigen bringen
(nach bester brasilianischer Art)
von Ricardo Domeneck
Erster Teil
“We shall eat your dead father, the Maï repeated and repeated.
They shall cook me in a stone pot, the Maï said.
They shall eat me once again in the inside-out sky, they said.”
„Song of the blossoming chestnut tree“, gesungen von Kãñïpaye-ro,
Dichterschamane der Araweté, aufgezeichnet von Eduardo Viveiros de Castro.
Meine Fassung, nach Castros portugiesischer Übersetzung.
Die Maï sind Gottheiten der Araweté.
Artikel dieser Art beginnen oft mit einer Reihe von Klauseln, Versuchen, seinen Auswahlvorgang zu verteidigen, der stets gewaltsam ist. Wer mit der Vergangenheit arbeitet, kann Zuflucht in den kanonischen Entscheidungen vergangener Generationen finden. Die Praxis seiner Zeitgenossen abzuhandeln bedeutet jedoch, unsteten Grund zu betreten, zwischen tektonischen Platten zu balancieren.
Eines der großen Probleme einer solchen Aufgabe ist, dass Brasilien, ein Land von kontinentalen Ausmaßen, von uns selbst und von anderen gerne als „Einheit“ gesehen wird. Eine Sprache, eine Kultur, ganz in der Art, in der wir auf andere kontinentengroße Länder wie Russland oder China schauen, die Unzahl von „unbedeutenden“ Sprachen vergessend, ungeschützt vom offiziellen Status, die „Anderstradition“ verbergend, wenn man mir das seltsame Sprachkonstrukt erlaubt.
Das scheint mir besonders in meiner gegenwärtigen Aufgabe unerträglich zu sein, wenn ich an Brasilien denke, ein Territorium, in dem niemand so effizient ist wie die Bewahrer des Status Quo. Anders als das in eine Vielzahl von Republiken zerbrochene hispanische Amerika ist Brasilien ein Nationalstaat, der in seinem Territorium nach der Unabhängigkeit von Portugal einheitlich geblieben ist, denn jeder einzelne Aufstand und jede einzelne Revolution wurde von einer zentralisierten Regierung gnadenlos niedergeschlagen. Wenn man mich in Diskussionen außerhalb des Landes fragt, warum Brasilien ein solches Bild von Frieden genießt, wo ich doch selbst fortwährend von seiner Gewalt spreche, sage ich für gewöhnlich, dass dieses Phänomen deshalb besteht, da nach jedem Fall von Rebellion niemand am Leben geblieben ist, davon zu erzählen.
Ich habe einmal über dasselbe Thema geschrieben, dass man der Gefahr nicht erliegen darf, zeitgenössische brasilianische Dichtung auf eine Weise zu diskutieren, als hätten „zeitgenössisch“, „brasilianisch“, und „Dichtung“ eine Art von quidditas, eine gegebene Essenz, auf die sich alle einigen können. Nur um dieses fiktive „Brasilianischsein“ zu erwähnen: Mário de Andrade, ein wichtiger modernistischer Dichter und Theoretiker aus São Paulo in Südbrasilien, hat einmal ein Gedicht über einen Mann geschrieben, der im Norden lebt und gerade von der Arbeit nachhause gekommen ist. Das Gedicht mit dem Namen „Discovery“ endet mit der Zeile: „This man is as Brazilian as I am“. Aber ist jede Erfahrung im Territorium gleich brasilianisch wie die andere? Carlos Drummond de Andrade (1902 – 1987) hatte das bereits in einem Gedicht namens „National Anthem“ aus seinem ersten Buch hinterfragt. Er schreibt in den letzten Zeilen:
„Our Brazil is in another world. This is not Brazil.
No Brazil exists. Would Brazilians however exist?“
Und wenn sie existieren, wann haben sie damit begonnen? Nimm ein beliebiges Schulbuch über brasilianische Literatur und die Antwort wird 1500 sein, das Jahr der „Ankunft“ der Portugiesen, die ich hier gerne als Invasion der Portugiesen verstanden wissen möchte. Diese Wahl ist politisch und eindeutig: Brasilien und die Brasilianer, und demnach brasilianische Dichtung, entstehen auf Portugiesisch und drücken sich in Portugiesisch aus.
Aber das bringt uns zurück zum Problem einiger Stimmen inmitten des großen Schweigens. Entweder behandeln wir die brasilianische Literaturtradition als im Jahr 1822 beginnend, als das Land von Portugal unabhängig wurde, oder wir müssen die Zeichenproduktion in diesem Territorium bis zu ihrem Anfang zurückverfolgen. Immerhin beginnt deutsche Dichtung nicht im Jahr 1871. Erneut sind wir mit einer Entscheidung konfrontiert, die nicht nur literarisch ist, sondern auch politisch.
Megalomanisch? Vielleicht – aber als politische Entscheidung
“This is not literary criticism, Ricardo. This is anthropology.”
ein brasilianischer Dichterfreund als Reaktion auf die erste Fassung dieses Artikels.
Das, was Jerome Rothenberg in seinem kritischen Werk in den Vereinigten Staaten Ethnopoetics genannt hat, hat in Brasilien erst in den letzten Jahrzehnten Nachfolger gefunden. In Anthologien wie „Technicians of the Sacred“ (1968) und „Shaking the Pumpkin“ (1972) sammelte Rothenberg Dichtung alter Kulturen wie den Maya und den Ägyptern neben Dichtung der indigenen Kulturen des frühen zwanzigsten Jahrhunderts und erzeugte Parallelen zwischen deren Sprachkunstpraktiken und jenen unsere historischen Avantgarde, was uns die wahre Bedeutung dessen, was Tradition jenseits unserer romantischen Vorstellungen des „Nationalen“ sein kann, ebenso aufzeigte wie das, was wahre historische Synchronizität für unsere literarischen Studien bedeuten kann.
Es ist wichtig, dies zu erwähnen, denn wenn immer ich beginne, einige der portugiesischsprachien Dichter und dichterischen Praktiken im heutigen Brasilien zu diskutieren, muss klar sein, dass einige Traditionen indigener Sprachen noch aktiv sind, ums Überleben kämpfend, und dieser Artikel hat sie alle zum Schweigen gebracht.
Zeichen am Land
“La nature est un temple où de vivants piliers
Laissent parfois sortir de confuses paroles
L’homme y passe à travers des forêts de symboles
Qui l’observent avec des regards familiers.”
Charles Baudelaire, “Correspondances”
Das Territorium, das wir heute als Brasilien kennen, ist seit mindestens 10.000 Jahren bewohnt. Die ältesten menschlichen Knochenfunde im Land gehörten zu einer Frau, genannt Luzia, datiert auf ein Alter von rund 11.000 Jahren.
Höhlenmalereien in Serra da Capivara, Bundesstaat Piauí, Brasilien
Diese frühen und ursprünglichen Bewohner haben uns erste „Zeichen“ hinterlassen, ins Territorium eingeschrieben. Einer meiner persönlichen Favoriten dieser frühen Zeichen ist ein Bild in Serra da Capivara, das Romantiker (wie ich es einer bin) den „Kuss“ genannt haben.
Höhlenmalerei, „Der Kuss“, Serra da Capivara, Piauí, Brasilien
Auf der Insel Marajó entwickelte sich die Marajoara-Zivilisation irgendwann zwischen den Jahren 800 und 1200 und ließ kunstvolle Artefakte zurück, bevor sie verschwand. Wir wissen sehr wenig über sie.
Urne der Marajoara-Zivilisation, 1000-1250 AD, American Museum of Natural History.
In den 1980ern wurden, durch rapide Entwaldung im Amazonas, hunderte Geoglyphen sichtbar, die jahrhundertelang unter den Bäumen verborgen geblieben waren. An Baudelaires Zitat denkend könnte man sie, anstatt von einem „Zeichenwald“, von „Zeichen unter dem Wald“ sprechen. Einige wurden auf ein Alter von 2000 Jahren datiert, und niemand konnte bislang sicher sagen, welche Kultur sie hervorgebracht hat oder welchen Zweck sie erfüllten.
Geoglyph im Brasilianischen Bundesstaat Acre, im Amazonas
Diese Geoglyphen sind nicht nur angemessene Bilder für die verborgenen früheren Traditionen im brasilianischen Territorium, sondern auch für die verborgenen Traditionen unserer Zeit.
Zur Zeit der portugiesischen Invasion im Jahr 1500 wurden hunderte Sprachen im Territorium gesprochen, jede mit ihrer eigenen Dichtung und Kosmogonie. Heute haben etwa 250 dieser Sprachen überlebt, die jedoch zu den bedrohtesten der Welt gehören. Einige werden nur noch von einer Handvoll Überlebender gesprochen.
Diese Traditionen jedoch, verborgen in den autochthonen Sprachen des Landes, sind sogar uns selbst verborgen, hauptsächlich aufgrund unserer historischen Mangels an Interesse und Respekt für diese Kulturen.
Einige Fragmente der Ruinen, die wir ihnen abgerungen haben
Erst seit kurzem haben wir besseren Zugriff auf die dichterische Tradition einiger weniger autochthoner Kulturen. Wenn ich meine Diskussion gegenwärtiger brasilianischer Dichtung mit diesen Texten beginne, heißt das nicht, dass ich sie als „präkolumbianische“ Kunst, als „vor-dem-Jetzt“ verstanden wissen möchte. Diese Gedichte und Lieder wurden in den letzten dreißig Jahren gesammelt, gesungen von Dichtern, die unsere Zeitgenossen sind.
Auch will ich nicht mit der gefährlichen assimilatorischen Mentalität arbeiten, die so verheerend für die autochthonen Bewohner des Territoriums gewesen ist, eine offizielle Herangehensweise, die glaubt, die brasilianische Urbevölkerung sollte in die „allgemeine“ brasilianische Kultur assimiliert werden, um schließlich zu verschwinden. Mein Zugang ist es, etwas aus der Vielfalt eines Landes zu zeigen, das sich in Trennungen verschanzt.
Und alles, was ich hier tun kann, ist, einigen Übersetzungen Anerkennung auszusprechen, die uns ein paar dieser Traditionen nähergebracht haben. Ein für mich wichtiger Text ist das Lied, aus dem ich das Epigraph dieses Artikels entnommen habe, gesungen von Kãñïpaye-ro, einem Dichter der Araweté, aufgezeichnet von Eduardo Viveiros de Castro in den 1980ern. Viveiros de Castro behandelt die Sprache und Kosmogonie der Araweté in seinem Buch „From the Enemy’s Point of View: Humanity and Divinity in an Amazonian Society“. Der brasilianische Dichter Antônio Risério, eine wichtige Gestalt für brasilianische Ethnopoesie, behandelt die Poetik des Liedes ausführlich in einem Artikel namens „Cannibal Words“: besonders seine Polyphonie, die als Fundament für unsere Poetik in den polyphonen Werken einiger Avantgardeschriftsteller wahrgenommen werden kann. Es findet eine stete Verschiebung der Stimmen statt, zeitweise vom Dichter gesprochen, zeitweise von den Göttern, zeitweise von toten Familienmitgliedern des Dichters.
Charles Bicalho hat an Liedern der Maxakali gearbeitet und diese übersetzt, wie etwa den „Sacred Song of the Leaf“, der mit einer enormen Ökonomie der Mittel komponiert ist. Das Liedgedicht, das die Maxakali in ihrer Sprache yãmîy nennen, verschmilzt seine Rhythmen mit den Bewegungen der Natur selbst, in einem Zyklus steter Erneuerung und Wiederholung. Die Bewegungen des Blattes und des Gedichts sind miteinander verbunden:
hu yu yux
hu yu yuxleaf comes
flying with
yãmîy comes
falling withleaf comes
flying with
yãmîy comes
falling withhu yu yux
hu yu yux
Andere unschätzbare Bemühungen beinhalten die Arbeit von Pedro Cesarino, der kürzlich eine Übersetzung des „Yawa shõka“, oder „Song to attract wild pigs“ der Marubo.
Bruna Franchetto arbeitet derzeit an Übersetzungen der weiblichen Lieder der Kuikuru, und Douglas Diegues, ein bedeutender brasilianischer Dichter, der nahe der Grenze von Brasilien und Paraguay lebt, wo die Guaranisprache noch von einem bedeutenden Teil der Bevölkerung gesprochen wird, hat kürzlich seine Übersetzung des „Ayvu Rapyta“ veröffentlicht, eines langen und wortgewaltigen Gedichtes der Mbya Guarani.
Brasilianische Dichtung hat sich diesen Traditionen nicht völlig verschlossen. Der bedeutendste brasilianische Dichter des 19. Jahrhunderts, Joaquim de Sousândrade (1832 – 1902), vertiefte sich in die amerindianischen Kosmogonien, um sein Epos „O Guesa“ (1884) zu schreiben, dessen berühmtester Gesang das höchst experimentelle „Wall Streets Inferno“ mit seiner babylonischen Sprachpolyphonie ist.
The Wall Street Inferno (1884) – excerpts
Joaquim de Sousândrade, translated by Odile Cisneros.1.
(Guesa, having traversed the West Indies, believes himself rid
of the Xeques and penetrates the New-York-Stock-Exchange;
the Voice, from the wilderness:)
– Orpheus, Dante, Aeneas, to hell
Descended; the Inca shall ascend
= Ogni sp’ranza lasciate,
Che entrate…
– Swedenborg, does fate new worlds portend?2.
(Smiling Xeques appear disguised as Railroad-managers,
Stockjobbers, Pimpbrokers, etc., etc., crying out:)
– Harlem! Erie! Central! Pennsylvania!
= Million! Hundred million!! Billions!! Pelf!!!
– Young is Grant! Jackson,
Atkinson!
Vanderbilts, Jay Goulds like elves!109.
(At the roar of Jericho, Hendrick Hudson runs aground; the
Indians sell the haunted island of Manhattan
to the Dutch:)
– The Half-Moon, prow toward China
Is careening in Tappan-Zee…
Hoogh moghende Heeren…
Take then
For sixty guilders … Yeah! Yeah!110.
(Photophone-stylographs sacred right to self-defense:)
– In the light the humanitarian voice:
Not hate; rather conscience, intellection;
Not pornography
Isaiah’s prophecy
In Biblical vivisection!118.
(Apocalyptic visions… slanderous ones:)
– For, ‘the Beast having bear’s feet,’
In God we trust is the Dragon
And the false prophets
Bennetts
Tone, th’ Evolutionist and Theologian!175.
(Practical swindlers doing their business; self-help Atta-Troll:)
Let the foreigner fall helpless,
As usury won’t pay, the pagan!
= An ear to the bears a feast,
Caressing beasts,
Mahmmuhmmah, mahmmuhmmah, Mammon.
Diese Versuche eines Dialogs haben ihre Spur auch in den Werken von Raul Bopp (1898 – 1984) und Oswald de Andrade (1890 – 1954) hinterlassen, zwei bedeutenden Modernisten aus der Gruppe von 1922. Unter zeitgenössischen Dichtern hat, außer Douglas Diegues (geb. 1965), auch Sérgio Medeiros (geb. 1959) mit diesen Traditionen in seiner Dichtung gearbeitet, wie etwa in seinem Buch „Totens“ (2012) und in seiner Übersetzung des „Popol Vuh“ der Maya. Das Wort „Totem“ hat einen mächtigen Klang in brasilianischen Poetiken, zurückgehend auf Oswald de Andrade, der in seinem „Anthropophagic Manifesto” geschrieben hat:
„The permanent transformation of tabus into totems”
André Vallias scheint dem kürzlich in seinem Klang- und Bildgedicht „Totem“ gefolgt zu sein, das die zahlreichen Stämme aufzählt, die gegenwärtig in Brasilien ums Überleben kämpfen, gegen die genozidhaften Industrialisierungspläne der brasilianischen Regierung.
André Vallias, “Totem”
Die heutigen Verbrechen der brasilianischen Regierung gegen die indigene Bevölkerung haben einige Intellektuelle und Schriftsteller auf deren Traditionen aufmerksam gemacht. In einer kürzlich erschienen Anthologie wurde zum erstem Mal eine Reihe amerindianischer Lieder neben anderen brasilianischen Dichtern gesammelt, unter anderem Texte der Araweté, der Bororo, der Kashinawá, der Marubo, der Mbya Guarani und der Maxakali. Aber es gibt mit Sicherheit noch viel zu tun.
Stimmen heben sich inmitten des Völkermords
„Oriki Orixá“, eine Sammlung von „Orikis“, Yorubálieder, um die Orixás (Yorubagottheiten) herbeizurufen, übersetzt von Antônio Risério
Während es emsig den von den Portugiesen begonnenen Genozid an den Amerindianern fortführte, begann Brasilien bereits sein nächstes genozidales Unternehmen und wurde zum Land, das weltweit die meisten Afrikaner entführte und versklavte. Kein amerikanisches Land hatte eine größere Sklavenpopulation: Statistiken sprechen von einer Anzahl von drei bis fünf Millionen Männern und Frauen. Die Vereinigten Staaten zum Beispiel entführten und versklavten eine halbe Million. Diese Afrikaner, aus verschiedenen Völkern stammend, brachten ihre Sprachen, ihre Dichtung, Tänze und Götter mit sich. Es ist ihnen zu verdanken, dass unter der monotheistischen Oberfläche des Landes noch immer der Polytheismus ihrer Vorfahren gärt.
Inmitten der Schrecken der Sklaverei gaben sie dem Land nicht nur einige seiner stärksten volkstümlichen Traditionen, sondern hinterließen ihre Spur – bereits im 19. Jahrhundert – in der Literatur, wie in den Gedichten von Cruz e Sousa (1861 – 1898), eines Sklavensohns, aus dem einer unserer bedeutendsten symbolistischen Dichter wurde, vergleichbar zu seiner Zeit nur mit Sousândrade; und im großartigen Machado de Assis (1839 – 1908), für viele der bedeutendste Schriftsteller, der je in Brasilien geboren wurde – ein Enkel von Sklaven.
Die gesungene Dichtung Brasiliens ist ohne ihren Beitrag undenkbar. Einige der kulturellen Ausdrücke, die heute am engsten mit dem Land assoziiert werden, entstammen aus ihrer Erfahrung – die Religion des Candomblé, die verschiedenen Musikstile wie Samba and Choro. Und doch waren die meisten dieser dichterischen und kosmogonischen Ausdrucksformen bis in die 1930er-Jahre in Brasilien gesetzlich verboten. Die Sambadichter, wie wir sie nennen, gaben uns eine moderne mündliche Tradition, die bis heute unsere Poetik belebt. Ich muss hier drei von ihnen erwähnen: Noel Rosa (1910 – 1937, ein Weißer), und den großen Angenor de Oliveira (1908 – 1980), besser bekannt als Cartola; und Antonio Candeia (1935 – 1978), besser bekannt als Candeia, die nicht nur große Musiker waren, sondern auch mündliche Dichter mit Raffinesse, Ironie und Perfektion.
Cartola, “O Mundo é um Moinho/The World is a Mill”
It is still early, love
You have not yet begun to know life
And you announce it´s departure time
Not knowing what path will guide youHeed my words, darling
Though I know you made up your mind
In every corner falls a little of your life
And soon you shall not be who you arePay attention, dear
The world is a grinding mill
It will crush your petty dreams
Reduce your illusions to smithereensPay attention, my sweetheart
From each love you shall inherit just cynicism
Before you know it, you will face the abyss
An abyss you carved with your own feet
In den gegenwärtigen Praktiken spürt man das Erbe der afrikanischen poetischen Tradition unter anderem in den Werken dreier Dichter: Ricardo Aleixo (geb. 1960), Edimilson de Almeida Pereira (geb. 1963) und Leo Gonçalves (geb. 1975).
Aleixo ist einer der bedeutendsten Performance- und Sounddichter im heutigen Brasilien, der sowohl aus der Konkreten Dichtung der 1950er als auch der Avantgarde der internationalen Soundpoesie schöpft, worin er in den letzten Jahren seine Sensibilisierung für die afrobrasilianischen Traditionen von Performance und mündlicher Textschaffung gewebt hat. Das Ergebnis ist für mich eines der stärksten Beispiele der Synchronizität, die sich durch die verschiedenen Traditionen bewegt: durch die Körper der Dichter. In „Poemanto/Poemantle“ performt er, gekleidet in einem Mantel, den er selbst mit Wörtern seiner Texte genäht hat, ein Ritual, das brasilianische Dichtung sowohl mit den afrikanischen Traditionen als auch den avantgardistischen Performancepraktiken der 1960 wiederverbindet. Das verbindet ihn auch mit dem großen brasilianischen Künstler Arthur Bispo do Rosário (1925 – 1989).
Ricardo Aleixo, Performance mit dem „Poemantle”.
Ricardo Aleixo, visuelles Gedicht
Schlangenkopf
Ricardo Aleixodie schlange verschlingt den eigenen schwanz. die schlange denkt, sie verschlinge den eigenen schwanz. die schlange denkt ja nur, dass sie den eigenen schwanz verschlingt. die schlange verschlingt den eigenen schwanz, der denkt. die schlange verschlingt den eigenen schwebenden schwanz. die schlange denkt, der eigne schwanz schlingt. die schlange denkt mit dem eigenen kopf. die schlange träumt, sie simuliere ihr eigenes zischeln. die schlange träumt, eine andre schlange zu sein, die den eignen traum und das zischeln nur simuliert. die schlange denkt und zischelt hinein in den dschungel. die schlange träumt, sie denke, und denke im traum, dass schlangen träumen. die schlange denkt, sie träume und im traum denkt sie, dass schlangen denken. die schlange verschlingt, ohne zu denken, das, was ihr gelingt. die schlange denkt, sie verschlingt ihre eigene ursache. die schlange denkt und schlingt in eigener sache. die schlange verschlingt nur, was sie denkt. die schlange denkt, dass sie denkt, und verschlingt, was sie denkt. die schlange verschlingt, was sie denkt und verschlingt. die schlange denkt, was die schlange denkt. solange denkt sich die schlange als schlange. die schlange denkt sich, solange sie ist, was sie denkt. die schlange denkt, was schlangen denken. die schlange verschlingt, was die schlange denkt. die schlange verschlingt, was schlangen verschlingen. die schlange verschlingt, was ihr gelingt. die schlange denkt, sich zu verschlingen. die schlange schlingt ohne zu denken, was ihr gelingt. die schlange verschlingt ohne zu denken, was sie verschlingt oder was ihr gelingt. die schlange verschlingt, was sie verschlingt. die schlange schlingt, solang es ihr gelingt. die schlange denkt nur das wort schlange nicht. die schlange schluckt das wort schlange nur nicht. der schlange gelingt, was ihr gelingt, ohne worte. die schlange verschlingt, was ihr gelingt, ohne angemessene worte. die schlange misst von hinten bis vorn den eigenen kopf. die schlange vollstreckt das eigene urteil. die schlange verschlingt den eigenen kopf.
(Deutsche Fassung von Barbara Köhler. Die Übersetzung entstand im Rahmen des Übersetzungsworkshops Versschmuggel des Poesiefestivals Berlin 2012)
§
Edimilson de Almeida Pereira ist einer der bedeutendsten Professoren und Erforscher der afrobrasilianischen Dichtungstradition, und sein Werk, in dem er sowohl aus dieser Tradition als auch aus den Melopea-basierenden Praktiken des zwanzigsten Jahrhunderts schöpft, gehört zum stärksten im Land.
Gedichte von Edimilson de Almeida Pereira:
Visitation
The horse of all questioning will bend my body
to the ground. Perhaps your reason and sadness
will comfort me. Once the sun burned; now
it murmurs a lament of flame and cloud. Your life
is no longer and forever settled on the beginning
of the world. I am the horse and also its negation.
Your peace leaves me apprehensive. Your head
spins, your baggage of changeable mirrors: you
didn’t even come out, O know one on speaking legs.
§
Destinations
Time dealt the cards on the policemen’s ribs. No, there
is no truth – only hypocrisy and violate clay. I turned
myself into a dog in the red dawns. And there I felt
the misery of the impossible forms. Demons are as
impersonal as masks of ash. I will turn into mercy
first, and then into reckless abandon. Destiny amuses
me, my feather of sunflowers lacerates me.
§
Praying Mantis
The hunter prays for the visceras’s innocence. Prays
to me, creator of the world, bruising and adored prince.
For whom sacrifices are little comfort. The piece of the
last vegetable request your prayers – the last piece,
remember. My thirst is the promise: O hunter! O hunter!
Are you not my sacrifice? Give me your suffering. The
lit bones of purification.
§
Circle of singers
To hear in your whirling and return the force that speaks to us:
only one was lost; this is how we came.Who else? The rhythm recovers us; the one which is the most
behind will be the one least absent. Your other life rolls in
this brief one. Your body over our soul dances until it bursts.
§
The dancer
Time above the banners.
What remains is the fire and shining,
always a risk.The pain does not threaten the body.
The sweat is old, and life
advances toward the morning.Time and its heel
are mysterious the way my steps
are my body’s celebration.I recite the religion of calluses.
§
Leo Gonçalves, geboren 1975 (alle drei Dichter wurden im Bundesstaat Minas Geiras geboren), führt diese Tradition in meiner Generation fort, indem er Text-, Performance- und Sounddichtung produziert, nebst einem wachsenden Korpus an Übersetzungen ins Portugiesische von Dichtern wie Aimé Césaire, Edouard Glissant, Birago Diop und Tchicaya U Tam’si.
Language of Aruanda
Leo Gonçalvesmy grandmother who was the daughter of a daughter
my grandmother who was the grandma of a grandma
stuttered and sang as a young girl
a song lost in the farthest away
a song that I myself still sing by heart
not knowing what it means
unsure if I sing it right
I know that when I sing
my body hums
my blood flows
and there isn’t an evil eye that survives
this ancient song
that my ancestors carved in the echo
of my grandparents’ voices
(übersetzt von Dan Hanrahan)
Performance: Stimme und Körper, Präsenz und Video
Da die Wurzeln der Performance brasilianischer Dichter in den Herzen unterworfener Völker liegen, der Amerindianer und der Afrikaner, mag es nicht überraschen, dass sie eine Kraft im Untergrund der gegenwärtigen Praktik verbleibt. Unterstützt von der iberischen Tradition der Troubadours hat sie eine der lebendigsten mündlichen Traditionen in den Amerikas erschaffen, von der Repentista-Tradition im Nordosten zu den Sambadichtern Rio de Janeiros, Belo Horizontes, Salvadors and São Paulos reichend. Debatten darüber, ob die gesungene Dichtung des Landes als „Literatur“ verstanden werden sollen, langweilen uns bis heute zu Tode. Doch mit dem Aufkommen des Internets ändert sich die Lage deutlich. Ricardo Aleixo und Leo Gonçalves, im vorigen Abschnitt erwähnt, arbeiten in diesem Bereich. Marcelo Sahea (geb. 1971) ist ein weiteres Beispiel eines Dichters, der das Textfeld durch Sound und Performance bearbeitet hat. Dichter, die in den 1980ern geboren sind, verbünden sich langsam mit diesen anderen Stimmen und markieren einen klaren kritischen Sprung in der dichterischen Praxis und Wahrnehmung. Brasilianische Videokünstler aus den 1960ern und 1970ern werden wiederentdeckt und zum Referenzpunkt für die Dichter, wie im Fall von Letícia Parente (1930 – 1991) und Geraldo Anhaia Mello (1955 – 2010).
Letícia Parente, “Registered Trademark” (1975)
§
Geraldo Anhaia Mello, „The situation“ (1978). Der Text ist einfach die Wiederholung „The political, economic, cultural and social situation in Brazil“, während der Künstler sich an Cachaça betrinkt.
Dichter wie Marília Garcia (geb. 1979), Érica Zíngano (geb. 1978), Reuben da Cunha Rocha (geb. 1984), Tazio Zambi (geb. 1985), Luca Argel (geb. 1988) und Victor Heringer (geb. 1988) haben mündliche Dichtung mit Videounterstützung hervorgebracht. Dichtung als Genre wird in einigen Fällen zunehmend unbestimmbar. Ihre Praktiken reichen von der Vokalisierung von dem, was ich „analytischen Lyrizismus“ nennen möchte, wie bei Garcia und Zíngano, bis hin zu konzeptuellen Gedichten wie „Ficção“ von Luca Argel.
Luca Argel, “Ficção/Fiction” (2012)§
Victor Heringer, “Mom used to read the future in sugar” (2012)[Caliban:] In the midst of a tempest, on the top of a mountain, Shakespeare created the word “dream.”
Before him, men dedicated time to interpreting them, the dreams, not the word “dream.”
Men also used to incubate dreams to foresee the future – men´s future, not of dreams nor of the word “dream.”
Some say Shakespeare made things even more confusing by inventing the word “dream.”
Some say the opposite.If men had foreseen the future of the word “dream,” they would have seen
the lottery,
the jackpot,
the sweepstakes,
the Hot Lotto,
the MegaDollars,
the gambling in Vegas: a probable tempest.
And they would say: thus is the life of men, not the life of dreams nor of the word “dream.”The word “dream” when read in a specific frequency, sounds like this: [Sound of the word “dream” as interpreted by a program converting image into sound] (Pause) It is clear that the word “dream” (not the dreams or men) does not sound good. Nobody using the word “dream” nowadays goes unpunished. Some say it is kitsch. Books and poems with the word “dream” in their title sell badly. To survive, their authors try the lottery, the jackpot, the sweepstakes, the Hot Lotto, the MegaDollars, gambling in Vegas. The candy called Dream sells well because it is edible.
[Choir] Mom used to read the future in sugar.
Mom ate mud.
How beautiful our mountain was!
Caliban wants to know why men applaud the sunset
and change the course of rivers.(…)
§
Reuben da Cunha Rocha, “Nailbox”, performance in England (2012) „z de zero / z in zero“ – Reuben da Cunha Rocha a.k.a. cavaloDADA + Tazio ZambiText & video: Reuben da Cunha Rocha a.k.a. cavaloDADA / Sound: Tazio Zambi
z) since the invention of trains things have been far ahead of words:
no + use calling them by name <<< to grasp sm thng in the sea of
transgenic gello of the real it would be necessary to give up vanity
which is labeling stamping cardboard boxes in alphabetical order <<<
instead look at what they are how they smell function these
terrestrial bodies territories tumults in each rotation out of thmslvs
<<< see thngs as they are: forever unknown <<< that christian marclay
track made solely of vinyl crackling processed eletrnkll <<< in “more
encores” he manipulates vinyls e.g. from strauss chopin john zorn
louis armstrong jimi hendrix maria callas and overlays instigatingly
2ways of hearing causing the listener to oscillate <<< fluctuations in
perception´s tone <<< to hear how the bee´s thousand eyes see <<<
octopus vibrations <<< to tell the truth, i spent years listening to
alva noto (the german visual/sound artist) thinking it was japanese
electronic music <<< 1day i heard him say he had run out of working
material and decided to experiment with sounds: not a matter of music
but to find 1new code to create 1 knows not what <<< what about the
textualities of a wooden splinter a cutter a hairy cloud of 1 cunt?
<<< inhuman doses of electronic music have kept me for years
suspicious of any type of identitary proposals <<< for me it became a
matter of discovering inscriptions and not sitting writing wanting to
grasp too stable categories poet writer even artist <<< i prefer djs:
who scratched the vinyl till they came up with turntablism, ethereal
vinyl sculpture, 1art on the margins of hip-hop etc. <<< or e. e.
cunnilingus cummings acrobat with typewriter and ink <<< alva noto
sculpts the wave´s design directly into the computer (non musical
mediation for his art of music making) sound sculpture / science <<<
allen ginsberg made all of “the fall of america” on a taperecorder
while traveling by car train plane through the 1970´s usa <<< exu of
the seven crossroads <<< when josé agrippino de paula looked for jorge
bodanzky to make “III world hitler” he (agrippino) said “i have 1
movie in my mind but i know shit about technical apparatuses” <<<
which means knowing nothing about cinema: and yet <<< the pixadores
are the only contemporary artists (apart from hackers and skaters) who
maintain their status as criminals but they could only gain from
knowing who josé roberto aguilar is <<< transmedia pixo <<< archaic
imagination´s futurism <<< bodanzky already worked with cinema every
end of the month he would take agrippino filmroll leftovers <<< they
would leave with pieces of film to improvise with actors <<< the codes
of each art proliferate as in rabbits breeding, which makes me doubt
the possibility to keep saying e.g. photography theater poetry <<<
genre is a ghost as is the newspaper <<< many creators are far ahead
of the categories in contemporary art <<< how would you like to define
yourself in case you were björk oiticica dj spooky? to tell the truth
i wouldn´t even like to have a name <<< z in zero
§
it’s a love story and it’s about an accident
by Marília Garcia, as translated by Hilary Kaplanat first, a frozen scene
a finger lands on the glass,
the screen trills.
do you remember
what you said then? did you yell? did it hurt?
do you remember what happened?
the bend, the rain, bright bang.(then she ended,
sent to belfast)do you remember what you said
as the car skidded?
three hours waiting in the rain,
the bend, the blast, remember?
you between the steel frames
asking what happened.(but that was an accident
about a love story.)love, you say, is a special effect
you think you’ve seen it all
but when the lights come on
the blind spots spread:
an ocean trench, a cloud
away and a city called Glass
or Vertex
Volpi or Verdilove is someone getting into
your hand’s geometryjust then you cross the corridor
this is no longer between us
from where the labored timbre of your voice(inside the poem
you feel the laboring effect
and all the whys echo
in a conch shell)that’s love, you say,
not a crow but a red raincoat
hanging on a window, come from another poem
to play on your screen.
it’s you eating the yellow left
after the blast.love is a look that stains
the retina in an emergency
a grey eye that trembles
when you cross hemispheres.“it’s hard to look
directly at
things” they are too
bright or too dark.two-thirds of this country is made out of water
every time you turn around, a
drowning.
just a dive,
said the image. let’s see the desert,
walk around the center of the universe?but this is a dictionary
and it’s about a love story.
–
love story, a-z
a finger lands on the glass
a grey eye that trembles
about a love story
after the blast
an ocean trench
and all the whys
and it’s about a love story
as the car skidded
asking what happened
at first
away
bright
but that was an accident
but this is a dictionary
but when the lights come on
do you remember
do you remember what happened
do you remember what you said
directly
drowning
every time you turn around
from where the labored timbre of your voice
hanging on a window
in a conch shell
inside the poem
it’s hard to look
it’s you eating
just a dive
just then you cross the corridor
love, you say, is a special effect
love is a look
love is someone getting into
not a crow but a red raincoat
or vertex
said the image
sent to belfast
that’s love, you say
the bend, the blast, remember
the bend, the rain, bright bang
the blind spots spread
the retina in an emergency
the screen trills
then she ended
things
this is no longer between us
three hours waiting in the rain
to play on your screen
two-thirds of this country is made out of water
volpi or verdi
walk around the center of the universe
what you said then
when you cross hemispheres
you between the steel frames
you feel the laboring effect
you think you’ve seen it all
your hand’s geometry
Teil Zwei
Man könnte sagen, dass portugiesischesprachige brasilianische Dichtung zwischen dem Zeichen des Kreuzes und den Spottliedern geboren wurde. Das Zeichen des Kreuzes war vom Priester und bedeutenden Dichter Antonio Vieira wohlvertreten, aber unser erster großer Dichter in portugiesischer Sprache war Gregório de Matos (1636 – 1696), der unglaubliche Satiriker, der allerdings selbst auch viele fromme Sonette produzierte. Sein satirisches Werk bleibt für uns aber am lebendigsten. Heute als Teil der Barockliteratur erforscht, ist er aus vielen Gründen hochinteressant für unsere Diskussion gegenwärtiger Lyrik. Gregório de Matos, der wegen seiner satirischen Lieder als Höllenmund bekannt war, hat seine scharfe Zunge mit dem Exil bezahlt. Seine Gedichte zeigen uns, dass unsere gegenwärtige Scheinheiligkeit, Regierungskorrpution und Gewalt eine lange Tradition hat, seit der Kolonialzeit. Man muss traurigerweise bemerken, dass selbst sein Werk befleckt ist vom Rassismus seiner Zeit.
Als Vorboten portugiesischsprachiger brasilianischer Literatur leiten Gregório de Matos‘ satirischen Werke eine starke Abstammungslinie brasilianischer Dichtung und Prosa ein – die satirische und beißende politische Kritik, in der einige unserer stärksten Schriftsteller sich ausgezeichnet haben, von Tomás Antonio Gonzaga in seinen „Cartas Chilenas” im achtzehnten Jahrhundert, zu Schriftstellern des neunzehnten Jahrhunderts wie dem großen Romancier Machado de Assis (1939 – 1908), oder dem Dramatiker und Nonsensedichter Qorpo-Santo (1829 – 1883), ein Vorläufer der surrealistischen und absurden Dichter des zwanzigsten Jahrhunderts – ein Mann, der von seiner Familie als verrückt erklärt wurde, aber fortfuhr, Texte zu schreiben, die ihn zu einem großen Freund von Alfred Jarry & Co gemacht hätten. Oder auch Luiz Gama (1830 – 1882), ein Sklavensohn, der ein bedeutender Rechtsanwalt und Sklavereigegner wurde und der seine scharfe Zunge gegen den Rassismus und die Gewalt der Gesellschaft seiner Zeit wendete.
Gregório de Matos‘ gelegentliche Experimente mit indigenen Wörtern in seinen Gedichten weisen auch auf Joaquim de Sousândrade und sein „Wall Street Inferno” voraus (siehe Teil I dieses Artikels). Es besteht jedoch, worauf Eduardo Sterzi mich hingewiesen hat, ein deutlicher Unterschied: die indigenen Kulturen werden bei Gregório de Matos nie als heroisch dargestellt, wie es bei Sousândrade und anderen Dichtern des neunzehnten Jahrhunderts der Fall wäre.
Und nicht zuletzt erscheint uns Gregório de Matos, in seiner sehr barocken Praktik der Aneignung von Texten anderer Schriftsteller (besonders spanischer Autoren wie Luís de Gôngora und Francisco de Quevedo), als ein Vorläufer vieler gegenwärtiger poetischer Praktiken und Strategien, die sich heute mit Textaneignung auseinandersetzen. Das kann in zeitgenössischer Dichtung auf vielfache Weise gespürt werden, von einer Unzahl an sehr verschiedenen Dichtern verwendet.
Nationale Tradition und Identität
Wie in Deutschland, wo die Obsession mit einer „Nationaltradition“ mit den Romantikern beginnt, wollte im neunzehnten Jahrhundert, nach der Unabhängigkeit von Portugal, die brasilianische romantische Strömung eine „brasilianische Literatur“ als geschlossenes System erzeugen. Das sollte für lange Zeit Folgen für die Literaturkritik des Landes haben.
Unsere erste Generation moderner Schriftsteller jedoch, die in den letzten beiden Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts (und im frühen zwanzigsten Jahrhundert) zur Reife kam, richteten ihre Augen auf brasilianische Politik und Gesellschaft und erzeugten einige unserer stärksten Texte und vernichtendsten Kritiken, die das Land je erhalten hatte. Das war eine erste kraftvolle Generation, die durchwegs bedeutende Werke schuf, welche nur in in Brasilien geschrieben werden konnten und doch eine unbestreitbare internationale Qualität hatten. In Romanen wir „Die nachträglichen Memoiren des Brás Cubas“ (1881) von Machado de Assis; im gewalttätigen „Das Athenäum“ (1893) von Raul Pompeia; im Anti-Epos „Os Sertões“ (1902) von Euclides da Cunha – in den Vereinigten Staaten von Samuel Putnam übersetzt als „Rebellion in the Backlands“ und in Deutschland von Berthold Zilly als „Krieg im Sertão“ – ein Bericht über den Krieg von Canudos, den blutigsten Bürgerkrieg Brasiliens; in „Das traurige Ende des Policarpo Quaresma“ von Lima Barreto, in dem ein brasilianischer Nationalist, der sich wünscht, das Land spräche Tupi und hätte eine unabhängige und isolierte Kultur, sein trauriges Ende findet; oder in den Gedichten von Joaquim de Sousândrade, Cruz e Sousa und Luiz Gama, wird Brasilien in seiner Gewalt, seinem Rassismus und den andauernden Konflikten porträtiert.
In den Werken der Gruppe von 1922, die gegen das literarische Establishment ihrer Zeit rebellierten und einen Korpus in der gesprochenen Sprache des Volkes schufen, ohne Archaismen, die europäische Tradition verlassend, erscheint uns heute dieser Impetus einer Nationalliteratur, obwohl oft kritisch gegenüber der brasilianischen Elite, als viel zu affirmativ. Mit diesen modernistischen Schriftstellern und Denkern wurde das Konzept einer „Rassendemokratie“ (Democracia racial) und ethnischen Durchmischung (Miscigenação) als Wert, der den europäischen Fiktionen von Reinheit überlegen ist, zum Grundmythos des Landes für die folgenden Jahrzehnte.
Diese Schriftsteller standen von Natur aus dem Land sehr kritisch gegenüber, und hier muss ich erneut Eduardo Sterzi dankbar sein, der mich auf einige Beispiele ihrer Werke hingewiesen hat, wie Oswald de Andrades „Poems of the colonization” aus den 1920ern:
Levant
Oswald de AndradeIt is said a bunch were hanged
And the skulls in spikes
Of the uninhabited farm
Meowed at night
In the wind from the bush
Sterzi hat mich auch daran erinnert, dass Mário de Andrade seinen experimentellen Roman „Macunaíma“ (1928) mit dem Massaker der Indios enden lässt. Nur ein Papagei bleibt am Leben, um die Geschichte zu erzählen.
Dies ist nicht der Ort, um die enorm komplexen und kontroversen Ideen rund um den multiethnischen Ursprung des Landes zu diskutieren, die einige der brillantesten Werke der brasilianischen Literatur von den 1920ern bis zu den 1940ern nach sich zogen. Pflichtlektüre wäre hier das Monumentalwerk von Gilberto Freyre, „Casa Grande & Senzala“ (Herrenhaus und Sklavenhütte, 1933), in den Vereinigten Staaten als „The Masters and the Slaves“ publiziert.
Gilberto Freyre, Cover einer der amerikanischen Ausgaben von „The Masters and the Slaves“
Was mir persönlich problematisch erscheint ist deren (offensichtlicher) Glaube an die Möglichkeit einer einheitlichen Kultur, ein „Ursprungsmythos“, der im Herzen jedes Nationalepos liegt. Aber so, wie Kriege gegen das Andere oft im Zentrum der Gründungsepen anderer Kulturen liegen, haben solche Texte in Brasilien immer von Inneren Kriegen geschöpft: wie in Euclides da Cunhas Anti-Epos über den brasilianischen Bürgerkrieg in Canudos (von 1895 bis 1897), mit dem Massaker der Rebellen, die sich in der Stadt Canudos verschanzt haben, oder, wie Sterzi aufzeigt, in Mário de Andrades Ursprungsmythos in „Macunaíma“ mit einem Massaker an Indios. Denn ein Gründungsmythos für ein Land wie Brasilien muss immer in Gewalt geschwisterlicher Gewalt geformt werden, Brüder gegen Brüder, Brüder gegen Schwestern. Brazil ist ein einziges riesiges Massengrab.
So ist der Mythos einer „Rassendemokratie“ (Democracia racial) oder Darcy Ribeiros Glaube an Brasilien als das zukünftige tropische Rom seither ein extrem zwiespältiges Konzept in der brasilianischen Kultur geblieben, da die Regierung sich solche Ideen für Propagandazwecke aneignet und es oft als friedlicher Prozess dargestellt wird, obwohl es doch im extrem gewaltsamen Verhältnis zwischen indigenen, afrikanischen und europäischen Völkern und deren Kulturerbe erzeugt wurde, die zweifellos das Land und seine Kultur formen.
Nichtsdestoweniger bleibt Oswald de Andrade einer der wichtigsten und einflussreichsten Schriftsteller dieser Gruppe, der in seinem „Anthropophagischem Manifest“ (1928) als Rezept für die Erschaffung einer genuin brasilianischen Kultur empfielt, „fremde Einflüsse zu fressen und sie in uns eigene Artefakte zu verdauen“, basierend auf dem rituellen Kannibalismus gewisser brasilianischer Stämme wie den Kaeté, die glaubten, man könnte sich die besten Eigenschaften eines Feindes einverleiben, indem man ihn aufaß.
Anthropophagic Manifesto (excerpts)
Oswald de AndradeOnly anthropophagy unites us. Socially. Economically. Philosophically.
The world’s one and only law. Masked expression of all individualisms, of all collectivisms. Of all religions. Of all peace treaties.
Tupi, or not Tupi, that is the question.
Against all catechizations. And against the mother of the Gracchi.
I am only interested in what is not mine. Law of man. Law of the anthropophagus.
We are tired of all the distrustful Catholic husbands put in drama. Freud finished off the woman-enigma and other dreads of printed psychology.
The one thing that trampled over truth was clothing, the impermeable layer between the inner world and the outer world. Reaction against the clad man. American movies will tell.
Children of the sun, mother of the living. Fiercely met and loved, with all the hypocrisy of longing, by immigrants, slaves and tourists. In the country of the great snake.
That is because we never had grammars or collections of old plants. And we never knew what was urban, suburban, frontier and continental. Loafers on the world map of Brazil.
A participating consciousness, a religious rhythmics.
(…)
Joy is the real proof.
In the matriarchy of Pindorama.
Against Memory as source of habit. The personal experience made anew.
We are concretists. Ideas take hold, react, burn people in public squares. Let us suppress ideas and other paralyses. For routes. To believe in signs, to believe in instruments and stars.
Against Goethe, the mother of the Gracchi, and the Court of Don John VI.
But there came no crusaders. There came fugitives from a civilization we are eating up, because we are as strong and as vengeful as the Tortoise.
Das ist natürlich von jeher der Weg gewesen, in dem Kulturen sich gebildet haben. Portugal selbst ist ein Produkt der römischen und arabischen Zivilisationen in seinem Territorium, die ihre unlöschbare Spuren in der Kultur gelassen haben – selbst eine gemischtethnische Kultur, wie jedes europäische Land. Unsere Sprache selbst, Portugiesisch, ist die Frucht eines solchen Prozesses, mit ihren lateinischen und arabischen Spuren.
Dieses Programm war aber sehr wichtig für die Dichter und Künstler der Nachkriegszeit in Brasilien, die diese Konflikte geerbt hatten. Die Bewegung der Konkreten Dichtung bewahrte des Werk von Oswald de Andrade vor dem Vergessen und nahm als erstes einige der Herausforderungen dieses Werkes an, besonders die Idee, dass brasilianische Künstler von nun an Kultur exportieren sollten anstatt sie zu importieren, und dass diese Kultur auf kritische Weise zu erschaffen sei, sowohl nationale als auch fremde Artefakte aufnehmend.
Décio Pignatari, “beba coca cola”
Einige der brillantesten Antworten auf diese Fragen gaben die brasilianischen Künstler der 1960er, wie jene der Tropicalismo-Bewegung, und Künstler wie Hélio Oiticica und Lygia Clark.
§
“H.O.”, movie by Ivan Cardoso about Hélio Oiticica (English subtitles)
Brasilien, das einen enorm starken Werkskorpus erzeugt hatte, zur selben Zeit brasilianisch und international, wie wir es in der Dichtung von João Cabral de Melo Neto, in der Architektur Oscar Niemeyers, in der Musik João Gilbertos, in der Kunst Alfredo Volpis, in der Bewegung der Konkreten Poesie, bei den Tropikalisten und anderen Künsltern der 1960er sehen können, wurde von einer blutigen Militärdiktatur in den Abgrund gerissen, die viele ihrer Künstler ins Exil trieb, Tausende umbrachte und diese Periode intensiver Schöpfung und politischer Debatte vorzeitig abbrach und auf diese Weise andere Strategien für die nächsten zwei Jahrzehnte notwendig machte.
Gegenwärtige brasilianische Dichter, die die Bühne nach Ende der Diktatur betraten, sollten diese Fragen und Dilemmas erben, und müssen besonders spezifische Wege finden, mit diesen Traditionen und Praktiken umzugehen. Für sie muss Satire, konzeptuelle Theorie und Identität direkt konfrontiert werden, jedoch ohne Dichotomien. In diesem Sinn sind sie ebenso Erben von Oswald de Andrade. Heute jedoch denke ich gerne an den Vorschlag des mexikanischen Künstlers Pablo León de la Barra für eine kleinen Wendung in Oswald de Andrades Programm: Zwing deine Feinde, dich zu fressen. (Lassen wir dies, lieber Leser, als Warnung an dich stehen.)
Satirisches I
Gegenwärtige Dichtung in Brasilien hat oft ihre Kraft aus dieser satirischen Tradition geschöpft, wie auch von den Goliarden, Nonsense und DADA. Einige der besten brasilianischen Dichter der Gegenwart haben sich mit diesen Kräften verbündet. Das kann man in den Werken vieler Dichter und Dichterinnen sehen, mit verschiedensten Herangehensweisen: Ricardo Aleixo (geb. 1960), Pádua Fernandes (geb. 1971), Veronica Stigger (geb. 1973), Angélica Freitas (geb. 1973), Marcus Fabiano Gonçalves (geb. 1973), Eduardo Sterzi (geb. 1973), Fabiano Calixto (geb. 1973), Paulo Ferraz (geb. 1974), Dirceu Villa (geb. 1975), Érica Zíngano (geb. 1980), Fabiana Faleiros (geb. 1980), or Ismar Tirelli Neto (geb. 1985), um einige wenige zu nennen.
[MAKELLOSES GEBISS, hör mir gut zu:] Angélica Freitas
MAKELLOSES GEBISS, hör mir gut zu:
du bringst es nicht weit.
tomaten sind es und zwiebeln, die uns stärken
und erbsen und möhren, du makelloses gebiss.
ja, stimmt, shakespeare ist auch nicht schlecht
aber was ist mit roter rübe, chicoree und kresse?
mit reis, bohnen und kohl?
strahlezähnchen, das rind das du isst
graste gestern auf feld & flur. und du am quengeln
das fleisch sei zu zäh.
zu zäh ist das leben, du makelloses gebiss.
aber iss nur, iss alles was dir zwischen die zähne kommt,
vergiss diesen schwatz
und nix wie rein mit dem besteck.
§
was dem geiger durch den Kopf ging, bei dem der tod die blässe noch betonte als er mit seinem schwarzen haarschopf und seiner stradivari beim großen flugzeugunglück von gestern abstürzte
Angélica Freitasce
de
e
ich denke an béla bártok
ich denke an rita lee
ich denke an die stradivari
und was meine karriere mich
alles gekostet hat
und jetzt versagt die turbine
und jetzt bricht die kabine entzwei
und jetzt fällt das ganze gerümpel aus den gepäckfächern
und ich falle auch
schön und bleich mit meinem schwarzen haarschopf
meine geige an die brust gedrückt
der typ vor mir betet
ich denke nur
ce
de
e
ich denke an stravinski
an den bart von klaus kinski
an die nase von karabtchevsky
an ein gedicht von joseph brodsky
das ich einst las
unversehrte damen lösen sie den gurt
was ist der boden so schön & und schon kommt er näher
one
two
three
§
ich schlafe mit mir/ auf dem bauch liegend schlaf ich mit mir/ auf der rechten
seite liegend schlaf ich mit mir/ ich schlafe mit mir und umarme mich selbst/
keine nacht ist so lang dass ich nicht mit mir schlafe/ wie ein troubadour der
an die laute sich klammert schlaf ich mit mir/ ich schlafe mit mir unterm
sternenhimmel/ ich schlafe mit mir während andere geburtstag feiern/ ich
schlafe mit mir manchmal mit brille/ und selbst im dunkeln weiß ich ich schlafe
mit mir/ und wer mit mir schlafen will muss neben mir schlafen(Poems by Angélica Freitas translated by Odile Kennel, in Rilke Shake und andere Gedichte, Luxbooks, 2011)
§
Ballade vom fliegenden Heilkräuterhändler
Dirceu Villawarum vertäust du, fliegender Händler
am Sonnenuntergang dein blaues Gebet
von Frühe und Federn, von Stroh und von Tau
von Buntglas und Glitzern in Dosen?und wie ein Traum beleben sich Blätter
saugen an Furchen Fasern Adern
ein Sprießen, ein Knistern hallt wider
flackert nicht, haftet Blüte um Blüte an der Struktur:dies hier befestigt sich wie ein Seil, atmet
verschwindet im Innern, Flaniern ohne Füße
nur Fließen, oh Wolkengewächs – Amulett aus Stein
trifft auf Brust, auf olivgrünes Tattoodie rustikalen Räder der Dämmerung rattern
was für ein Lachen, sanftes Gelb durch die Scheibe
Hände wie rissige Erde, Fingernagelgalgant
fliegende Heilkräutertiere pflanzt dupflückst im Grünen Insekten und Feuer
niemand, nicht mal ein Mysterium bewahrt
ganze Kontinente in einem Rauchwolkenkörper
in einem Hauch Spiralen aus flüssiger göttlicherGeometrie auf dem Grund der Tasse verdampfender Duft
warum erntest du, fliegender Händler
Jahreszeiten, trocknest Knospen
gesammelte Falter auf Nadeln?(Translated by Odile Kennel, published in the Neuer Rundschau 124. Jahrgang 2013, Heft 3)
§
Auszug aus einer Kritik in einer Sonntagsbeilage
Paulo FerrazI. (der Künstler: ein Porträt)
Die Vernissage des 32-jährigen
J.G.C. am Donnerstag macht
deutlich, dass hier ein
großer, wahrhaft zeitgemäßer
Künstler am Werk ist. Die
letzten 12 Jahre widmete
er sich Workshops, Kursen,
Reisen und Ausstellungsbe-
suchen, und so konnte
sein Werk reifen und hebt
sich deshalb von der für
Duchamps Doppelgänger
so typischen Naivität ab,
beherrscht der Künstler
doch Raum und Materie
meisterhaft, zeugt von
großer suggestiver Kraft
und ruft bei dem mit der
abgebildeten Realität
kaum oder gar nicht ver-
trauten Publikum in-
existente Gefühle hervor.
II. (der Künstler: Selbstdarstellung)Von 20 bis 30 habe ich in Europa
studiert, eine intensive und
lehrreiche Zeit, aber entscheidend
für meinen Stil waren die zwei
Jahre nach meiner Rückkehr,
ich habe Monate auf der Straße
und in Favelas verbracht, hatte
mit Leuten in Sozialwohnungen,
Hütten oder der Gosse zu tun,
ich kenne sie und ihre Hunde
beim Namen, am Ende habe ich mich
sogar wie einer von ihnen gefühlt.
III (das Werk: Konzept)Vor dem Hintergrund dieser
bizarren Erfahrung schleppte
er säckeweise Blechdosen in
die Galerie, Stapel von Pappe
(zum Anfassen für das Publikum)
und zwei Leiterwagen, die jeder
nach Belieben herumschieben
darf. Die Szenerie ist auf ihre
ganz eigene Art vergnüglich:
Es wird viel gelacht, zumal die
akademischen Muskeln dem kilo-
schweren Müll allzu oft nicht
gewachsen sind. Auch die übrigen
Exponate gewinnen in diesem
Universum der Ausgeschlossenen
noch an Tiefe: Betonbänke
(-betten), übersäht mit Ex-
krementen, alte Stofffetzen,
zum Trocknen in die Sonne ge-
hängt (einem Flutlichtstrahler)
– Fackeln in den Ritzen führen
durch den Raum –, kerosin-
getränkte Decken, die nur auf
ein Streichholz warten, und in der
Mitte eine authentische Baracke,
in die zehn Besucher passen.
Darin: alte Matratzen, Bretter
vor den Mauerritzen (wer auf-
merksam hinschaut, bemerkt die
unterschiedliche Beschaffenheit
der zahllosen Bretter), Töpfe,
in denen Reste kleben, vor Schmutz
starrende Wäsche – alles ziemlich
unhygienisch. Der Besuch dauert
höchstens zwei Minuten, und alles
wirkt so echt, dass sich bei der
Vernissage einige übergeben mussten.
Damit hatte J.G.C. gerechnet, wussten
doch die Besucher so wenig wie er,
was unbewohnbar bedeutet.
IV. (Schlussbemerkung)Die vormaligen Bewohner
erhielten für die Baracke
und ihren Inhalt ein-
schließlich der Kleidung
einen fairen Preis, der es
der Familie ermöglichte,
aufs Land zurückzukehren,
von wo die Bedauernswerten
nie hätten weggehen sollen.
Sollten Sie neugierig
geworden sein, jedoch des
Drecks wegen Bedenken
haben: Mitarbeiter vor Ort
sorgen bei Verlassen
des Ausstellungsraumes
für sofortige Keimfreiheit.(ah, es gab exzellenten Jahrgangswein)
§
(Paulo Ferraz, übersetzt von Matias Mariani)
§
Figuren (Exzerpt)
Eduardo SterziEduardo Stenzi
beging mit 18 Selbstmord.
Er gab sich der „Leidenschaft“ hin.
Das war damals en vogue.Eduardo Sturzi,
Fürst der zahnlosen
Dichter,
ertrank in der Adria.
Zwei, drei seiner Freunde
ließen
Öl ins Meer
an seiner vermuteten Todesstelle
und steckten
es in Brand.Eduardo Spencer,
der dank seines Fracks
in der Klatschspalte landete,
war nicht mal einen Monat verheiratet.
Denise ließ ihn für einen Uruguayer sitzen.Eduardo Strazzi
starb vor Traurigkeit.
Dies zumindest vermutet seine Mutter,
behält es aber für sich.Edoardo Stronzo,
der Dorftrottel,
der Narr ohne Hof,
der Dorfpolizistensohn: Was haben wir für ihn
von unserer Reise mitgebracht?Eduardo Stelzi
litt an extremer Kleinwüchsigkeit.
Er probierte alle Gegenmittel aus.
Gab schließlich auf.
Erkrankte
an einer anderen Krankheit.
Magerte ab.
Heute macht er sich nichts mehr vor.Eduardo Stesso
wurde immer mit seinem Zwilling Roberto
verwechselt.
Er erwog Haarefärben
und plastische Chirurgie.
Er sprach mit seinen Freunden darüber,
doch die rieten ihm davon ab.Eduardo Esteves:
So hieß der Trainer
der Fußballmannschaft
des Flamengo Rio de Janeiro.
Ein Pseudonym.
Sein wirklicher Name: Mario Nikolaus.Eduardo Stern,
angeblich verwandt mit H. Stern,
“und zwar ziemlich eng”.
Quälte jedesmal seine Enkel mit dieser fragwürdigen Information,
wenn er an der Bijouterie
in Copacabana vorbeikam.Eduardo Stereo,
wie vorauszusehen, DJ.Eduardo Sterli,
Finanzexperte, 53 Jahre,
behauptet nicht zu wissen, was eine Krise ist.
Als letztes Jahr an der Börse alle alles verloren,
sahnte er ab. Sein Geheimnis?
Verrät er nicht.Eduardo Stecher,
begnadeter Redner,
gebildet, sympathisch.
Sein Nachname belastet ihn, er hat schon versucht, ihn zu ändern.Eduardo Stretto,
Dirigent des Symphonieorchesters seiner Stadt,
glaubt, dass Nomen Omen sind.
Er schrieb ein Buch darüber, das jedoch keinen Verleger fand.Eduardo Strezzi
erhält regelmäßig Post
an seinen Namen
mit nur einem z,
schlimmer noch, mit ss.Eduardo Estéril
hat fünf Bastardkinder.
Seine Frau weiß von zweien. Von zwei weiteren ahnt sie etwas. Vom letzten, nicht einmal das.Edoardo Stento,
Ingenieur aus Mailand,besitzt ein Landhaus in der Toskana. Er vermietet es
an einen norwegischen Schriftsteller,
der seit zwei Jahren
kein Wort geschrieben hat, weil er es satt hat, Klischee zu sein,
es aber nicht lassen kann.Eduardo Stenio,
Schauspieler, spielte einen großartigen Prospero
in der Inszenierung am Theater Jedermann.
Sein Name war für alle Preise im Gespräch.
Er erhielt nicht einen.(Auszug aus “Personagens”, Gedicht von Eduardo Sterzi, übersetzt von Odile Kennel)
§
Fabiana Faleiros is ein gutes Beispiel einer gegenwärtigen Dichterin, die aus Praktiken und Strategien schöpft, die abwechselnd satirisch, konzeptuell, lyrisch oder performativ genannt werden können. Eines ihrer wenigen publizierten Bücher ist „Alles, was ich in einem Monat schrieb“, das in einem riesigen Band sowohl die Sprache als auch die digitalen Codes ihrer Produktionen dieses Monats sammelt, was sie vermutlich an Praktiken in den Vereinigten Staaten ausrichtet, wie jene Kenneth Goldsmiths oder Vanessa Places. In ihrem Video „Zeichen und ähnliches lesen“ liest sie einfach die alltägliche „visuelle / gefundene Textualität“ vor, die uns täglich umgibt.
Fabiana Faleiros, “Reading Signs and the Like”
Wie Dirceu Villa über ihr Werk gesagt hat, ist es Dichtung, die sich selbst als Dichtung in Frage stellt, genau wie ihre Musik und Performances unsere Vorstellungen davon in Frage stellen, was Musik und Performance sein können. Es besteht ein Bruch zwischen den Genres, den ich für enorm zuträglich für die gegenwärtigen Praktiken halte.
Fabiana Faleiros, “A woman goes, a woman thinks”Der Text stammt von einem von Angélica Freitas‘ „Googlagen“, an denen sie in Brasilien schon gearbeitet hat, bevor FLARL-Dichtung in den Vereinigten Staaten hervortrat. Unten der Text in Hilary Kaplans Übersetzung:
„a woman goes“ (googlage by Angélica Freitas)
a woman goes to the movies
a woman goes to get ready
a woman is going to ovulate
a woman is going to feel pleasure
a woman is going to ask for more
a woman is going to be crazy for you
a woman goes to sleep
a woman goes to the doctor, complaining
a woman begins noticing the growth of her stomach
a woman is going to spend nine months with a child in her belly
a woman goes to her first ultrasound
a woman goes into surgery and gets anaesthesia
a woman is going to get married have kids and take care of her husband and children
a woman goes to a healer for a serious haemorrhoid problem
a woman begins feeling abandoned
a woman begins wasting her primary follicles
a woman is going to regret it forever
a woman goes to the kennel ready to buy a dog
a woman goes to the back of the van and sits down weeping
a woman is going to put the house in order
a woman goes to the supermarket to buy provisions
a woman goes home to prepare the meal
a woman is going to stop trying to change men
a woman goes to the agency earlier
a woman goes to work, leaving the man in the kitchen
a woman goes away, leaving a gaggle of children
a woman is going to go out with someone else in the end
a woman is going to get a place in the sun
a woman is going to be able to drive in afghanistan
§
Poem by Fabiana Faleiros
The face is the most expressive part of the body
due to its close proximity to the brain.
.Launched in our furthest extremities
one of the toes is called index on hands.
.Away from the brain and close to the ground
are the soles of the feet.(meine Übersetzung)
Auch die von Veronica Stigger praktizierte Aneignung von auf der Straße gehörten Konversationen, präsentiert als Dichtung, könnte man sowohl konzeptuell als auch satirisch nennen. Eines ihrer Bücher, „Delírio de Damasco“ (Damaskus-Delirium), arbeitet hauptsächlich mit dieser Methode. Einige Beispiele zeigen uns ein Röntgenbild der brasilianischen Mentalität: den Rassismus, die Misogynie, die Korruption. Und die Weise, in der Brasilianer die Sprache verwenden:
Poor Indians!
They used to live in peace.
Then human beings came and killed them all.:
Here´s a good place.
There are only
rich men.:
When I was young,
I used to vomit
beautifully.:
He dreamed of becoming a waiter
in the United States.
He left for France.
Aber es bestand nie das Bedürfnis, diese Praktiken in Brasilien „konzeptuell“ oder „uncreative writing“ zu nennen, da viele dieser Herangehensweisen bereits zur satirischen Tradition gehörten, wie man auf der berühmten Seite von Machado de Assis Roman „Die nachträglichen Memoiren des Bras Cubas“ (1881) sieht, oder in Oswald de Andrades found-text-Dichtung aus den 1920ern.
Seite aus Machado de Assiss Roman „Die nachträglichen Memoiren des Bras Cubas” (1881), das Kapitel betitelt „Der alte Dialog zwischen Adam und Eva”
§
Analytischer Lyrizismus
Die Debatte über den Tod/die Notwendigkeit der Ermordung des „Ich“ (I, je, eu, yo) in der Dichtung wütete in Brasilien genau wie in vielen anderen Ländern. In Brasilien wurde dieser Prozess besonders von einem der bedeutenden Dichter der Nachkriegszeit, João Cabral de Melo Neto (1920 – 1999), und seiner Abscheu gegenüber allem beeinflusst, was zu musisch, zu subjektiv, zu emotional ist. Unterstützt vom Einfluss der Noigandres-Gruppe (der São-Paulo-Zweig der Internationalen Bewegung für Konkrete Dichtung), nahm ein solches Misstrauen gegenüber allem zu persönlichem die brasilianische Poetikdebatte und -praxis in den 1990ern und frühen 2000ern ein. In den letzten Jahren scheinen ein paar brasilianische Dichter die Strategie der Trennung der lyrischen Stimme vom Innen zu verfolgen. Sie verwenden dabei mehrere Kunstgriffe und schöpfen aus verschiedenen Quellen: etwa die Essays und Gedichte der L=A=N=G=U=A=G=E-schriftsteller oder französische Dichter von den 1970ern bis hinein in die 1990er, wie Emmanuel Hocquard, Jean-Michel Epistallier, Charles Pennequin oder Nathalie Quintane.
Das konnte in den 1990ern in einem Dichter wie Marcos Siscar (geb. 1964) gespürt werden, der ein wichtiger Referenzpunkt für eine Diskussion dieser Praktiken ist. Die falsche Dichotomie zwischen Subjektivität und Objektivität wird von ihm in verschiedenen Gedichten angegriffen, wie in „Ficção de começo“ , unten übersetzt vom deutschen Dichter Jan Wagner.
Fiktion des Anfangs
Marcos Siscarinnen beginnen. im innern wo sie beginnen die dinge. ihre schwindelerregende ellipse zu ende bringen. das innere ist das ende des aufbruchs. beginn der rückkehr. sich aufmachen als kehrte man zurück. zurückkehren als machte man sich auf. die fiktion reise.
seiner eigenen sache nahe zu sein ist vom verlust nicht weit weg. sieh dort die hände des jugendlichen von kaltem schweiß bedeckt doch nicht in der lage die seiten eines buches umzublättern.
das innere ist der ort des verlusts. an dem man nicht bleibt. was für ein ort ist ein ort an dem man nicht bleibt? wenn man an die grenze gelangt. die grenze das innere.
das innere verläßt man. wie kleinstädte you know you have to leave. man bleibt nicht. im innern kommt man an. das innere verläßt man. man bleibt nicht dort wo man ankommt im innern. sand ziege stein und schrei. wo man jedoch nicht bleibt.
das innere verrät man verwirklicht man. verwirklicht es indem man es verrät. das äußere der dinge ist wenn man das innere verrät. deshalb gibt es kein reines außen keine reine poesie. jenes das man nicht verrät.
keine stille die nicht verraten würde.
im innern klingen die dinge hohl. zu sehen ist nichts. so hört das ohr nur hohle dinge klingen. unterm maulbeerbaum erklingt ein umgedrehtes boot das der fluß zurückgab.
die fiktion ursprung. die fiktion muß kultiviert die erinnerung gestutzt die lüge gestützt werden. der barmherzigkeit halber. alte geschichte lauer betrug der literatur.
die fiktion inneres ist ganz und gar wirklich. ist die erde. ein boden auf den man fallen kann. einen ort zu haben an dem man sich fallen lassen kann ist grund genug zum aufbruch.
das innere. wenn ich schon aufbreche will ich es nicht verlassen. hier beginnt alles mit einer art und weise den fall zu vermeiden. braucht einer der nie vom baum fiel sicherheit? kennt einer der sich vom baum geworfen hat den schmerz des falls?
(stille) spricht die stille
du klagst nicht bittest nicht akzeptierst nicht bleibst nicht rührst dich nicht vom fleck. das innere verschließt sich bietet sich dar. klette borstiges erbarmen.
§
Andernorts habe ich diese Dichter „Analytische Lyrizisten“ genannt. Ein Beispiel ist Marília Garcia und ihr „it´s a lovestory and it´s about an accident“ im vorigen Teil des Artikels, in dem sie die Zeilen ihres eigenen lyrischen Gedichts in alphabetische Reihung bringt und somit die sogenannte Notwendigkeit des Lyrischen Impulses im Ausdruck in Frage stellt. Alles kann einfach anders sein. Narration und Struktur.
Eine weitere großartige Dichterin, die hier erwähnt werden sollte, ist Juliana Krapp (geb. 1980). Leider sind ihre Gedichte sehr schwer zu übersetzen, da in ihnen die Idee eines subjektiven Ausdrucks von Sprache, Grammatik, Kontext, Etymologie bestimmt scheinen – diese Faktoren kontrollieren und bedingen, was zuletzt gefühlt wird. Wie die brasilianische Romanschriftstellerin Clarice Lispector (1920 – 1977) einmal schrieb: „Ich versuche zu sprechen, aber ich drücke nicht aus, was ich fühle, sondern vielmehr wird das, was ich fühle, langsam zu dem, was ich sage.“
Für jene, die Portugiesisch sprechen, hier eines ihrer Gedichte:
Limite
Juliana KrappSebe é um acúmulo de varas entretecidas
cerceando
por vezes sim por vezes nãoeu sei
do esforço para persuadir
naturezas terríveissimultaneamente
à graça dos perímetros
que permanecem estanques(a dor de coabitar
tanto as frinchas quanto os
confinamentos)Quando rarefeitos, os movimentos
aguardam mais do que a conclusão, preferem
o desdém e o resguardo
ou mesmo esse estalido
(um arquejo)
embalado
pelo embaraço hipnótico
das pequenas sombrasSomente as ventanias são de fato enamoradas
e apenas nelas alijam-se
as imundícias mais profundascomo somente os ramos
estraçalham-se e engravidam-se
num único carretel de músculos em escombros(um aparelho de tensões
alimentado pelo ritmo
dos sumidouros)
§
Érica Zíngano ist eine Dichterin, die an der Grenze zwischen Subjektivität und Objektivismus arbeitet und erzeugt in vielen Fällen einen stark satirischen Effekt. Subjektivität ist in ihrem Werk meist nur als Selbsterniedrigung erlaubt.
genre-theorie
Érica Zínganodieses gedicht ist, wie könnte es anders sein,
meiner mutter gewidmetLyrika® ist ein Medikament gegen Fibromyalgie, das meine Mutter jeden Abend (vor dem Einschlafen) nimmt, wenn sie einen Schub hat. Fibromyalgie ist eine Art Rheuma – nur, dass sie Muskeln, Sehnen und Bänder betrifft – und verursacht unter anderem Schmerzen, Müdigkeit, Unwohlsein. Neben der Einnahme von Lyrika® (jeden Abend) vor dem Einschlafen geht meine Mutter drei Mal pro Woche zur Physiotherapie, wodurch sie wesentlich weniger Schmerzen habe, berichtet sie überzeugt. Lyrika® wird von Pfizer™ hergestellt, einem Pharmaproduzenten, der in der Sparte Herzmedikamente den Markt dominiert: Norvasc® zum Beispiel, das meine Mutter auch nimmt (jeden Abend vor dem Einschlafen), ist mit Sicherheit das am meisten verkaufte Medikament gegen Bluthochdruck. Das nordamerikanische Unternehmen Pfizer™ wurde weltweit bekannt durch die Herstellung von Viagra®, das meine Mutter wegen geschlechtlicher Unverträglichkeit natürlich nicht nimmt.
(dieses gedicht enthält daten aus Google Inc. die dichterin übernimmt im falle der weiterverbreitung dieser angaben keine haftung. leider scheint das gedicht für Pfizer™ werbung zu machen, dem anschein zum trotz garantiert sie, dass sie mit diesem gedicht ursprünglich nicht beabsichtigt hat, in irgendeiner form werbung zu machen, sondern eine schlichte würdigung der regelmäßigen medikamenteneinnahme ihrer mutter zu verfassen – wenn sie an dieser aufgabe gescheitert sein sollte, bittet sie um entschuldigung und weist darauf hin, dass sie es weiter versuchen wird)
§
die Konservativen sollten mal was Nützliches tun
Érica Zingano
Seriengedicht, das durch die Sängerin Cláudia Leitte inspiriert wurde, die ins Guinness-Buch der Rekorde kam, weil sie eine nie dagewesene Welle an Simultanküssen auslöste: 8372 Paare (was 16744 Personen entspricht) küssten sich auf dem Musikfestival Axé Brasil in Belo Horizonte am 3.4.2009 zu dem Hit “Ich will noch mehr Küsse” auf den Mund. Dieses Gedicht ist meiner Zahnärtzin Dr. Laura gewidmet, die mir davon erzählte und mir auf diese Weise poetischen Stoff lieferte. Und da ich nicht möchte, dass ihre Zahnarzthelferin Meire sauer auf mich ist, widme ich dieses Gedicht auch ihr.
1.
Manche behaupten
die
Heutige Poesie
sei am Ende
Damals
“im Goldenen Zeitalter
der Poesie”
seien
die Poeten
nach Art der Griechen
sportlicher gewesen
(zum Verständnis des Verhältnisses
von Sport und Körper
in der Klassischen Antike
vgl. Ilias)
schließlich
hat unser Guter
Alter
Luís de C’mões
über seinem Bad in der
Griechisch-Lateinischen Tradition
die Sportliche Betätigung
nicht vergessen
Im Gegenteil
C’mões war Soldat
und reichlich beeinflusst
von den Klassikern
aus ihm wurde der Größte Dichter
Portugiesischer Sprache
eigentlich aber
der Größte
Schwimmende
Dichter Portugiesischer
Sprache, denn als er
auf dem offenen Meer
Schiffbruch erlitt
rettete er sich
und seine Unersetzlichen Verse
schwimmend
im Freistil
hauptsächlich Kraul
Auf eine Art haben
die Konservativen Recht
C’mões ist
unschlagbar
mit Ganzkörpereinsatz
und viel Gutem Willen
rettete er
schwimmend
Die Lusiaden
Epos in 10 Gesängen
mit 1102 Strophen
Achtzeiler im diesem Fall
da aus je 8 Verszeilen bestehend
mit je 10 Silben
was also insgesamt
8816 zehnsilbige
Verse macht – Fakten
die
die Konservativen
nutzen sollten
für die längst
fällige Kampagne
“C’mões, ein Dichter,
ein Schwimmer:
vom Kanon
zum Guinness-Buch”
mit diesen Zahlen
käm er ganz sicher
ins Buch der Rekorde
erst recht wenn wir
bedenken
dass
er einäugig war
er schwamm
und schrieb dies alles
mit nur einem Auge
unglaublich!
Verlieren wir also keine Zeit
Guinness-Buch Jetzt
für den einäugigen C’mões!2.
Zu den wenigen
Schriftstellern
im Guinness-Buch
gehört der
südbrasilianische Dichter
Luiz de Miranda
er ist der einzig
Lebende Dichter
der Welt
mit einer Büste
auf einem
Fußballfeld –
was werden sie nur tun
wenn er stirbt
Ganz sicher
wird Luiz de Miranda
der einzige
Tote Dichter
der Welt
mit einer Büste auf
einem Fußballfeld sein
(vorerst zumindest
und wer weiß
wie lange)
Der Klassischen
Tradition zufolge
die Sport und Kultur
wertschätzt
hat Luiz de Miranda
Fußball gespielt in Uruguaiana
aber denken Sie
bloß nicht
der Sport
hätte ihn
vor der Bohème bewahrt
den Titel
des Nachtprotokollanten
überreichte ihm
Lupicínio Rodrigues persönlich
darüber hinaus war
Luiz de Miranda
Pate der Farra-Bar
in Recife
(wo
an der Wand
Photos von ihm
prangen)
und wurde
vom Haus des Dichters
zum Dichterfürst
von Rio Grande
ernannt
einer Tradition folgend
die 1916 ihren Anfang nahm
als Olavo Bilac
diesen Titel
Zeferino Brasil
verlieh
Deshalb und aus
anderen Gründen
sollten die Konservativen
die längst fällige
Kampagne
Guinness-Buch
für den einäugigen C’mões
in Angriff nehmen
denken Sie nicht?3.
Noch eine Angenehme
Überraschung
(um nicht zu sagen
Illustre Anwesenheit)
im Guinness-Buch
ist das
Akademiemitglied
Paulo Coelho
der
zweimal ins Buch
der Rekorde kam:
zuerst 2003
weil er auf der
Frankfurter Buchmesse
der Meistsignierende
Autor seines Buches
in unterschiedlichen
Editionen war
und erneut 2008
weil Der Alchimist
das Meistübersetzte
Buch der Welt ist
(vorerst zumindest
und wer weiß
wie lange
in 67 Sprachen)
Und vorerst
ist es mit dem Zauber
Paulo Coelhos
nicht vorbei
als er am 25. Juli 2002
in die Brasilianische
Akademie der Sprache
auf Platz 21
zum Nachfolger
des Wirtschaftswissenschaftlers
Roberto Campos
gewählt wurde
und die Wahl
mit 22 Stimmen
und 15 Gegenstimmen gewann
(die der Soziologe
Hélio Jaguaribe erhielt)
meinte er, nun sollten sich
die Literaturkritiker
die ihn für einen schlechten
Schriftsteller
hielten
mit seinem Eintritt
in die Welt
der Unsterblichen
auseinandersetzen
Schenken wir doch
den Worten
seiner Antrittsrede
ein wenig
Aufmerksamkeit
“Und trotz allem
müssen wir singen
mehr denn je
müssen wir singen.”
Vinícius de Moraes
ist ein Meister
solcher Sätze.
In Erinnerung an
Gertrude Stein
und ihr Gedicht
“A rose is
a rose is a rose”
sagt er einfach nur
wir müssen singen.
Keine Erklärungen
keine Rechtfertigungen
keine Metaphern.
Als ich mich auf diesen
Platz bewarb und
wie es das Ritual verlangt
an die Mitglieder
der Casa de Machado
de Assis herantrat
hörte ich von
Josué Montello
ähnliches. Er sagte
zu mir:
“Jeder Mensch muss
der Straße folgen
die durch sein Dorf führt.”
Davon ausgehend
dass
Der Tejo schöner ist
als der Fluss
durch mein Dorf,
Aber der Tejo
ist nicht schöner
als der Fluss
durch mein Dorf
Weil der Tejo nicht
durch mein Dorf
fließt
bin ich überzeugt
dass
es keiner weiteren
plausiblen Argumente
bedarf
um die Konservativen
zu überzeugen
dass sie
etwas Nützliches tun
und den Großen Einäugigen
C’mões
vorschlagen sollten
fürs Guinness-Buch
der Rekorde
§
p.s. don’t let the shuttlecock fall
Érica Zinganoi don’t know
if i can still say
i was lucky to be born
in a land
where birds
sing
for no reason
sing
just sing
in the morning
in the afternoon
at night
i don’t know
if i can still say
i was lucky to be born
because i have a sister
named consuelo
consuelo is younger
than me
she’s prettier
than me
but much more
machiavellian
than me
consuelo never liked
the birds’
chirping
and spent her whole
childhood
trying to kill them
in the morning
in the afternoon
at night
consuelo with her
pañuelo
was infallible
mi hermanita fea
muy fea, muy mala
la pobrecita…
consuelo with her
plumero peludo
and her colorful
plastic feathers
MERELY PHOTOCOPIES
PHOTOCOPIES — arrest her!
arrest her, please!
te odio consuelo
how can you do that?
do you have ice
cubes
for a heart?
maybe
consuelo liked
the silence more
than i did
or maybe
she learned
faster
earlier and
faster
for my consolation
to keep
the secret
of the mermaids
§
envelope-poem
Érica ZinganoYou know, the points turn in different directions
It is immediate as well as simple
I am 33 and I just sold my library
I cannot carry it in any appropriate way
go up stairs, keep the shelves tidy, store the dust
of the air in tiny cups for microscope analysis
but it is not a criterion of importance
carrying the time can be quite heavy
even more when I don’t know how to define it
well, can I borrow your
timer? yes, I could sleep “ here ”
if “ here ” was cozy – where you waved me
I get wrapped in the feathers of a plastic goose
whatever you send me I repeat aloud
through the window of a computer turned on
thank you, you were kind
I just hope the stamps don’t leave such
deep marks in your fingers
It might hurt longer than it should(both English poems Translated by: Rafael Mantovani)
Wie manche der Frauen, die mit der L=A=N=G=U=A=G=E-bewegung verbunden werden (Lyn Hejinian, Susan Howe, Rae Armantrout, Rosmarie Waldrop), stellen einige dieser brasilianischen Dichterinnen immer wieder die allzu einfachen Verbindungen von Genre und Gender in Frage.
Teil Drei
Im Jahr 1989, als die Brasilianer zum erstenmal seit dem Putsch von 1964 zur Wahl gehen konnten, waren der wichtigste frühe modernistischen Dichter, Carlos Drummond de Andrade (1902 – 1987), und zwei der Dichter, die die von den dualistischen Debatten der Nachkriegszeit geschlagenen Wunden zu heilen versucht hatten, Ana Cristina Cesar (1952 – 1983) und Paulo Leminski (1944 – 1989), bereits tot. Es war der Augenblick eines Scheinübergangs von einem autoritären Militärregime zu einem autoritären ökonomischen Regime, die 1990er, Zeit des unerbittlichen Propagandadiskurses eines triumphalen Kapitalismus. Ideen der 1950er dominierten immer noch, sehr wenig war getan worden, um die Nachkriegsdichter wiederzulesen und neue Vorbilder zu finden. Dichter wie Hilda Hilst (1930 – 1940) und Roberto Piva (1937 – 2010), die später enorme Bedeutung für meine Generation erlangten, konnten nur in Antiquariaten gefunden werden und wurden in der Presse kaum diskutiert.
This mournful moon, this unease
Inner turbulence, lagoon,
Inside the solitude, a dying body,
All this I owe to you. Such immense
Plans and future, ships,
Walls of ivory, words full
Always consented to. It would be December.
A jade horse beneath the waters
A double transparency, a line in mid-air
All these things at your fingertips
All undone through the portal of time
Silent and blue. Mornings of glass,
Wind, a hollow soul, a sun I can not seeThis, too, I owe to you.
Hilda Hilst (übersetzt von Beatriz Bastos)
Es gab bedeutende Initiativen, wie das „Coleção Claro Enigma“, geleitet von Augusto Massi, der die Werke von Dichtern der 1950er und 1960er, wie Maria Ângela Alvim (1926 – 1959) und Orides Fontela (1940 – 1998) wiederauflegte, and wir stöberten nach diesen Ausgaben wie nach Schätzen.
In den 90ern hatten wir noch immer ein wesentliches modernistisches Vorbild im Werk von João Cabral de Melo Neto (1920 – 1999), der uns gelehrt hatte, „die Blume nicht zu parfümieren, das Gedicht nicht zu poetisieren“. Für uns war das nicht nur eine Lektion in Poetik, sondern auch in Ethik.
(Gedichte aus „Education by Stone: Selected Poems”, Archipelago Books, 2005, übersetzt von Richard Zenith)
Trotz des enormen Verlustes an Dichtern, der im letzten Jahrzehnt stattfand (Haroldo de Campos, Hilda Hilst, Waly Salomão, Roberto Piva und Décio Pignatari gehören zu den Dichtern, die in den letzten zehn Jahren verstorben sind) bleibt Dichtung eine der aktivsten und stärksten Kunstformen im heutigen Brasilien. Der meistgelesenste und populärste Dichter im Land ist Manoel de Barros (geb. 1916), der mit fünfundneunzig Jahren immer noch recht aktiv ist und kürzlich seine Gesammelten Gedichte veröffentlicht hat. Nicht zu verwechseln mit einfacher Naturpoesie, betreibt Barros seltsame Übungen in der Phänomenologie der Wahrnehmung.
from An Education on Invention
To enter the state of being a tree it’s necessary
to begin with a gecko’s amphibian torpor
at three in the afternoon in the month of August.In two years inertia and scrub grass will begin
to expand our mouths. We will suffer
a little lyrical decomposition
until the scrub grass emerges in our speech.For now, I have designed the smell of the trees.
(übersetzt von Idra Novey, in Birds for a Demolition. Carnegie Mellon University Press, 2010)
Augusto de Campos (geb. 1931), der letzte der drei großen Noigandres-Dichter, ist immer noch eine treibende Kraft innerhalb der brasilianischen Poetik durch seine Arbeit als Dichter, Kritiker und Übersetzer. Er spielt für uns eine Rolle ähnlich derer von João Cabral de Melo Neto: Lektionen im Maßhalten. Dazu seine unablässige Neugierde und Experimentierfreudigkeit mit jeder möglichen Grundlage für Dichtung.
Augusto de Campos, “cidade/city/cité” (Performance)
Von den Dichtern, die in den 1980ern zu veröffentlichen begannen, wurde Horácio Costa heute zu einem der aktivsten Schriftsteller und Professoren des Landes.
Portrait of Don Luís Gôngora
vampire face, life-battered nose,
stiffness your immoderate pride,
the corners of your smile drawn down without irony,
I do not see your hands, they might be writing,
they might be manipulating syntax’s abacus,
I see you absorbed in seeking dormant treasures,
larvae shimmer on the white page,
and your sphinx eyes, now fixed, penetrate me
they imitate your fan-like ears, your full cloak,
a mass of velvet or wool, Director always
of a baroque hospital before the Grand Renfermement,
for whom do you pose? You sing of the Esgueva
of your contemporaries’ thought, the radical sigh
of Nature in deep heat, lacteal language, azure field,
and you value me, Acis without, Polyphemus within,
this is the world Don Luis, you are sitting for me,
distinguished pre Kafkian cockroach goes from ante
to anteroom, patiently expounds his emphatic elastic decorum,
this much you must put up with, Jekyll without,
so small within, because you are child and beyond
the canvas’ frame you speak s blacks do—it is at night
that banality becomes a pearl, and your baldness fills the sky,
the void yields, and a lullaby escapes your word.(aus Satori, 1989. Übersetzt Martha Black Jordan)
Ein verborgener Meister der heutigen brasilianischer Dichtung ist Leonardo Fróes, der 1941 in Rio de Janeiro geboren wurde. Sein erstes Buch erschien 1968, and seither wurden mehrere weitere veröffentlicht, doch er ist bis heute nicht zum Allgemeinbegriff geworden, obwohl er das auf jedenfall sein sollte. Sein Understatement verbirgt eine lebhafte Intelligenz. Besser als Übersetzer bekannt, hat er Schriftstellern wie William Faulkner, Percy Bysshe Shelley, Malcolm Lowry, D. H. Lawrence, Jonathan Swift, George Eliot, Virginia Woolf, Rabindranath Tagore, André Maurois, Lawrence Ferlinghetti, Flannery O’Connor und Jean-Marie Gustave Le Clézio auf Portugiesisch eine Stimme gegeben. Da er leider im eigenen Land wenig Anerkennung erfahren hat, ist es verständlich, dass seine Gedichte noch nicht übersetzt worden sind.
Von den Dichter, die in den 1990ern aktiv wurden, habe ich bereits im vorigen Teil des Artikels von Ricardo Aleixo und Marcos Siscar gesprochen. Ich möchte dazu Carlito Azevedo, Josely Vianna Baptista und Jussara Salazar erwähnen. Einer der einflussreichsten Dichter des Jahrzehnts ist mit Sicherheit Carlito Azevedo, ein Dichter, Herausgeber und Übersetzer. Zwischen 1997 und 2010 hat er zwanzig Ausgaben seines Magazins „Inimigo Rumor“ herausgegeben, das eine bedeutende Rolle darin gespielt hat, Werke zum Referenzpool hinzuzufügen, den die Noigandres-Gruppe dem Land eröffnet hatte. Er tat dies, in Kollaboration mit anderen Dichtern und Übersetzern, indem er der Sprache das Werk vieler internationaler Dichter, besonders zeitgenössischer französischer Schriftsteller wie Natalie Quintane, Jacques Roubaud und Michel Deguy, hinzufügte. Auch hatten die meisten jungen Dichter ihre ersten Veröffentlichungen auf den Seiten des „Inimigo Rumor“. Carlito Azevedo selbst publizierte im Jahr 2010, nachdem er dreizehn Jahre geschwiegen hatte, „Monodrama“, eines der wichtigsten Bücher des neuen Jahrhunderts und eine Umwälzung in seinem Oeuvre, eines jener Bücher, das ein neues Licht und eine neue Perspektive auf das bisherige Werk des Autors wirft.
Josely Vianna Baptista hat ein paar Bücher und Übersetzungen von lateinamerikanischen Schriftstellern wie José Lezama Lima und Néstor Perlongher veröffentlicht, dazu ein bedeutendes Werk zur Übersetzung der amerindianischen Poetiken. Ihr letztes Buch stellt Übersetzungen dreier heiliger Lieder des Guarani-Kaiowá-Volkes neben ihre eigenen Gedichte.
Drei Gedichte von Josely Vianna Baptista:
reductio
tatterdemalion habit
become hindrance,
on his way he lost
staff, cross,
his velvet cordsunseen in the forest
hunger stripped his flesh
to the spirit:
living on roots,
ripe tubercles,
faded scraps of hide,
openly he anointed himself —
a cistern hidden
in bromeliathen he saw again in dream
his childhood cradle,
his mother’s lap, the forbidden embrace
and his vain memory
became flood
§
Antônio de Gouveia,*
cleric in Pernambuco
(circa 1570)gold’s priest, necromancer
well versed in magic and mine,
came to Brasil in banishment,
celebrated strange masses,
murdered imprisoned natives,
stole young women from their lovesin attempted defense
of his far-flung exploits
drafted with depraved fist
a testimonial to customs absurd
on this other side of the worldplunged his nib into a pool of anatto
(that they might suppose i dight
in blood this bitter tract),
mixing the ruddy juices
with resin from a fine cedar
(let no scribe lack sealing-
wax for sour vomit)made tea from the fennel
he carried in a purse
and fiercely discoursed
against witch doctors’ works(o bird of ill omen,
take this thy canting flight
and any elsewhere alight)infused with thought,
he crept into brush,
and waking in grass,
tossed his habit in the bushafter shooing a scarab
with his leather sandals
and cleaning his shit
from his shoes with a cob
(good as any for manuring)
— ora-pro-nóbis* thorns,
noble gold of the converted! —,
without pardon for perjury,
did sign the sullied paper:From a Pernambucan hamlet
In this controverted October month,
I remain yr hmbl & obt child in Christ,
Father Antônio Gouveia.
§
air
thus how can i desire
gods in this desert so im
mense (leadgray
clouds us and venus:
cloud of clouds) , fix
gaffs in this yescraft, un
erring (leadgray
clouds this ash: ob
lique lines), if in these un
endings i mull this very begin
ning with so measured
an end (whets zinnias,
zooms up into wist
eria: steelblue gray
anulls the day), and if the world goes
on round and im
perfect at this moment
when everything is mute? (liquid words)All Josely Vianna Baptista poems translated from Baroque Patch by Chris Daniels.
Jussara Salazar wurde im Nordosten Brasiliens geboren, eine Wiege moderner brasilianischer Poesie, und eine Region, die noch immer eine äußerst starke mündliche Tradition besitzt. Lieder, die auf der iberischen Halbinsel längst verschwunden sind, leben im Nordosten fort. In Ihrem letzten Buch, „Carpideiras“ (2011), schöpft Salazar aus einer alten iberischen Tradition, den Carpideriras, Frauen, die angestellt wurden, um für die Toten mit Gebeten und Liedern zu trauern. „Capir“ ist ein altes Verb für „weinen, betrauern“.
Tirana, der geheiligten, verherrlichten, heiligen Prinzessin Johanna an ihrem Totenbett gesungen.
Jussara SalazarSie sprach zum Herzen des Minnesängers
sing nicht/ zu den Raben
sprach sie zum tiefen Meer
die Nebel ruhen/ im Zorn
sie sprach sing nicht/ sag nur
dem Schweigen/ es soll
die Blume in die Erde bringen/
und sie zerreißt den Schatten/ dessen Hand sie
schlank wie eine hohe Nelke
umklammerte/ sprach zu der Zeit
schreck/ die Sonne nicht auf mit deinem SchmerzDeutsche Fassung von Christian Lehnert, entstanden im Versschmuggel, Poesiefestival Berlin 2012.
§
Im neuen Jahrhundert wucherten die Forschungslinien ins Unermessliche, und brasilianische Dichter, obwohl mit einem starken Sinn für Gemeinschaft ausgestattet, scheinen allergisch gegenüber dem Begriff einer „Gruppe“ oder „Bewegung“ geworden zu sein. Es ist eine aufregende Zeit, mit Dichter so unterschiedlich wie Angélica Freitas, Juliana Krapp, Érica Zíngano, Fabiana Faleiros, Pádua Fernandes, Fabiano Calixto, Dirceu Villa, Marcus Fabiano Gonçalves oder Érico Nogueira.
TAKKA TAKKA
Fabiano Calixtozwischen bögen, wägen, verträgen zerrinnt das leben,
zäh, der toxische stoff hoffnung,
schon ohne geschichte, ohne die feuchtigkeit der finger
die davon kosten an den umrissen des wörterbuchsdas licht, aus der hölle erlöst, splittert
über dem tagtäglichen mut, fällt,
fällt in sich zusammen. das licht ist aderlass. schreit
dennoch (anderes licht) träume und sammlung
von hochzeiten, bei denen das glück
noch vor den nachrichten endet. deutlich, nach wie vor,
die paukenschläge, blei-ameisen
nagen an eingeweiden, morast im magen.die kalte zärtlichkeit, mit der die dämmerung
den morgen weckt – ohne kanonen, sich entfernt
mit ihren schweren schritten, ihren
tand verwahrt im vergessen der sterne.in den überresten der stadt (der nacht)
ein schmales, junges gesicht, unter
vom schlaf bewölkten blicken,
benday punktiert, schon fort,
läuft aus.(übertragen von Odile Kennel. Takka Takka ist der Titel eines Gemäldes von Roy Lichtenstein)
§
Keine der obigen Antworten
Dirceu VillaEs gibt Katzen und Wollknäuel.
Die Abstraktion steckt im Zwischenraum, der zwei wahrnehmbare Dinge verbindet und ihnen auf diese Art eine Bedeutung zuweist, will sagen, eine Bedeutung, die beide Dinge beinhaltet. Darüber hinaus ist Abstraktion unnötig (philosophisch), brutal (politisch) oder unbedeutend (poetisch).Eliot schrieb: „das objektive Korrelat”. Goldener Schnitt der Poesie.
Es ist unmöglich, in einem Land des Mangels wie Beiwerk zu wirken.
Spektakel: das Versprechen, alles was hohl ist, oberflächlich zu erneuern, bis jemand es bemerkt
oder zweifelt, und dann folgt erneut Erneuerung vom Nichts aus.
Die kindische Illusion, wir befänden uns auf dem Gipfel der Zivilisation.
Die Arbeit des Dichters besteht unter anderem darin, die Dinge von ihrem Ort zu entfernen, sieabzusondern, oder bis dato unsichtbare, wesentliche Beziehungen zu knüpfen.
Wir sind durchdrungen von einer Kultur des Todes und der Gnade, d.h. römische
Arena, Taschenmetapher für nach Lumpen hungernde Massen.
Ein Mensch ohne Meister bildet sich selbst und grüßt die, die berühmt sind.
Fortschritt der Intelligenz: vom Schöpferischen zum Instrumentellen.
Die Poesie ist nicht tot, die Dichter haben nur geschlafen (Jean Cocteau).Und die Moral: Wenn du nicht lächelst, stimmt mit deinen Lippen etwas nicht.
(translated by Odile Kennel, in Neue Rundschau 124)
§
The Cleaver
Dirceu VillaBones. Sometimes, yellow lard on the bones;
and sometimes, red blood in the nails.
There are pigs, or heads of pigs,
they hang the heads on a hook,
or the pigs’ stupid face of death
in the dim glass of a slaughterhouse.
Or the white, but a white soaked in pink,
gore in the dreaming of guts,
dreams the butcher: of handling a cleaver.
And the white apron that drenches in,
or drinks the blood springing from nerves
in a hug with the bones, where the cleaver strikes,
and how it gleams the cleaver that cuts:
that’s the virtue of steel in the fist going up,
or the threat of the empty circle that hangs it
on the slaughterhouse wall, to the naked eye,
announcement of cut. Or pricks the edge in a rock,
and the one empty eye concentrates, waiting for meat.
Stabs in the rock slashed with blood,
or cracks, from where death comes lurking
the butcher in his dream of red, stroking
the keen edge, the sneaky smile of the cleaver,
that cuts. And then the cleaver is something else:
not pigs, nor nerves, nor bones,
not even the butcher that dreams it,
but extended part of the vibrating arm
and indelible part of what it maims,
the keen edge, the sneaky smile of the cleaver, that cuts.
§
Marcus Fabiano Gonçalves‘ Gedichte stellen einen Übersetzer vor große Schwierigkeiten. Die Cratylusfrage untersuchend arbeitet Gonçalves oft an der Grenze von Klang und Sinn, ihre Entsprechungsbeziehungen. Sein Vokabular ist äußerst präzise, mit Aufmerksamkeit für jedes Detail, und die Struktur seiner Gedichte schöpft aus Klang, besonders internen Reimen und Alliterationen, um Sinn zu erzeugen. Da es keine Übersetzungen gibt, ein Beispiel auf Portugiesisch:
A máquina do fundo
Marcus Fabiano Gonçalvesa pesca escassa, o rio poluído, a cotação do dracma
um heraclítico engenho rege o mundo das máquinasna margem, a draga do imponderável rio sem fundo
sem opor o puro ao sujo, aceitando o fluxo de tudoa lama negra das imagens infiltra o oco dos crânios
no entulho da palavra gaga, a jaula do orangotangoreúne uns cacos de naufrágio, enjambra umas tábuas
vê se salva a ave da linguagem nessa arca de sucataune o conteúdo à sua forma mais perfeita e intransitiva
e embora toda solda, cuida de mantê-la móvel e flexívelcoa a lama toda dessa draga e separa bem tua saliva
retém a gota e o grão no sorriso amarelo das espigasobserva o dedo lerdo catando seu milho na datilografia
de grão em grão germina um corvo no ventre da galinhachocando a ave faz esfinge de quem ignora o enigma
mas na verdade ela bem sabe que no fundo nada finda.
§
Érico Nogueira hat Horaz und Vergil übersetzt und gab kürzlich Vergils vollständige Übersetzung der Idylle des Theokrit heraus. Seine zwei veröffentlichten Gedichtbände schöpfen aus den lateinamerikanischen und iberischen Traditionen, sie mit historischem Bewusstsein erneuernd, obwohl man deutlich seine Nostalgie für ein Goldenes Zeitalter spürt. Es ist eines seiner Hauptthemen, und ich habe ihn einmal einen „unverbesserlichen Hugh Selwyn Mauberley“ genannt.
On the Tip of My Tongue (3 of a 9-section poem)
Érico Nogueira, translation by Chris Miller1.
It’s always the same: punch your card at the exit,
‘Ufa—at last…’ and ‘No more to-bloody-day’:
‘Step on it’, you think, though your mind is still
Bubbling with Eve-tease and worse things yet;
Down the road, it gets beautiful; yo! The sunset,
The meadow is a promise but a purgatory too,
That same old uneasiness sweats over everything
Recalcitrant especially to anything with wit;
The skinnamalink voice of the rebec (not
Rebecca!) jangles up the rhythm with its
See-saw bow. Drum! A punch to the schnozzle,
Another! Doh, damn jasmine-scented night!
A wind gets up, almost home, now here’s a wood
(Was that always there?)—and it’s calling your name,
Your true, your secret name, not the one on your tag;
Up top the moon, well, illuminates—not much,
And you on the bottom stair of not much either;
A touch of frost; warm bed; yep, that’s the way it goes.
2.Anything rather than sleep: meaning life outside the window,
the Milky Way and all those confusing constellations,
stars glimmering now here now there—if you should care to look;
it’s the stuff night does. Why? Don’t ask me, it was God
set all that up—I could tell you more by daylight,
when the head’s just doing its thing, not thinking,
and there’s more of the world; now,
what with no light, no noise, it’s a pig—and life itself
is less itself (or maybe more?)—I said: a pig,
having to get up and go for a piss, and there, yes,
bonkers at the mirror’s gleam, to have the guts to look;
clock, mirror, lost souls, discombobulating rubbish;
and I forgot, it only comes by night, like someone not sure
what they want, coming to get you, matey, merciless they are…
So look! Head up; look in the bloody mirror:
nothing so terrible, nothing so specially ugly,
nothing as bad as Monday after a long weekend;
darkness is good for you; darkness loves you, babe.
3.Saying ‘Yo tengo miedo’ and ‘No, no puedo, gracias’
Isn’t going to save you just because it’s Spanish,
It doesn’t change a thing; and yes, it really is raining,
And you’re stuck here, with a million things to do,
Thinking: But it’ll rain on me, surely I’ll dissolve…
Go on out then, there’s nothing else to do;
On the corner, ‘A taxi, a taxi’, that’s your mantra
—till one comes: ‘Where to?’ ‘The airport’.
‘A plane for Rome, asap! ‘For Rome, it’s quite a wait:
Is Athens any good?’ ‘Now?’ ‘This very instant;
Unconditional embarcation.’ ‘Unconditional?
Would that be “international”, do you think?’
‘Hear what you like’ (Stupid cow.) (What a sucker…)
‘This way.’ Those German verses lurking in your case:
Open the book, the wine-dark pummelling the cliffs,
And that mountain, or another, with its snow-capped
Peak, and lots of grapes, and the touristic glimmer
Of the dinky little Greece those Germans just adore…
§
Penelope (i-iv)
Ana Martins Marques übersetzt von Julia Sanches. Ursprünglich veröffentlicht in Modern Poetry in Translation.(i)
What day knits
night forgets.What day traces
night erases.By day, threads,
by night, tracks.By day, silk,
by night, loss.By day, cloth,
by night, fault.
(ii)
Day’s plot
in night’s yarn
or night’s plot
in day’s yarn
as I spin:
fidelity by a thread.
(iii)
By day thimbles.
At night no one.
(iv)
And she did not say
I am no longer yours
I gave my heart to quiet a long time ago
while your heart swayed in travel
as I waned
amongst the night’s drapes
you traversed unsuspected distances
the charmed bodies of women whose strange language
I could use to spin a shroud
of our common tongue.
And she did not say
in the beginning I thought of you
first as one who burns before
a dying campfire
later as one who, remembering, visits childhood shores
and then as one who recalls a long summer
and later as one who forgets.
And she also did not say
loneliness can come in many forms,
as many as there are foreign lands,
and it is always welcoming.
§
Mermaid in earnest
Angélica Freitas übersetzt von Hilary Kaplanthe cruelest part was that as beautiful
as much as her features flaunted
a genetic pedigree of bonafide aristocracy
and her hands deftly wielded
needlework and roast chickens
and her tresses attested
to tortoiseshell combs and splendid grooming
the fascination would always remain
with the mermaid’s taili won’t repeat the story
after andersen & co
we all know the rough path
first the impossible desire
for the prince (doll in formal attire)
then awareness
of powerful witchcraftin exchange she gives something up
her voice, her elastic hymen
her club med membership cardit is a difficult process
feminine bipeds are fooling themselves
attributing to high heels
the pain more properly ascribed to haughtiness
seeing as
the mermaid treads on knives when she uses her feetand who takes her seriously?
the ending would be better if
instead of the elephant that dances
in her head when she sees the prince
and the 36 fingers
that sprout when she offers her handshe regained her tail
and never shaved again
Über zwanzig Jahre nach dem Ende der Militärdiktatur, die so viele Künstler zum Schweigen gebracht hat, haben wir nun eine neue Generation, zur Mitte der 2000er zur Reife gekommen, die mir den historischen und politischen/kontextuellen Implikationen ihrer Praktiken viel bewusster erscheinen als einige ihrer Vorläufer der letzten dreißig Jahre. Sie haben aufgehört, die poetische Funktion der Referenzfunktion in der Sprache entgegenzusetzen, als ob das eine das andere auslöschte, und scheinen nun an der Grenze von Durchsichtigkeit und Nichtdurchsichtigkeit des Zeichens zu arbeiten. Materialität und Konkretheit beachtend, verstehen sie die Dichte des Wortes in der Poesie, ohne einfach die visuelle Theatralisierung des Zeichens zu betreiben, wie wir es oft bei den Konkreten Dichtern und ihren Nachfolgern gesehen haben. Sie scheinen die Herausforderung von Susan Howes Frage aus ihrem My Emily Dickinson angenommen zu haben:
„Who polices questions of grammar, parts of speech, connection, and connotation? Whose order is shut inside the structure of a sentence?”
Ich wünschte, ich hätte mehr Gedichte in diesem Artikel aufzeigen können. Leider sind so wenige dieser Dichter übersetzt worden, und manche von ihnen gehören zu jenen, die ich am meisten schätze. Einige der faszinierendsten Wesen, die in den letzten Jahren ans Tageslicht gekommen sind, wie Reuben da Cunha Rocha und William Zeytounlian, haben selbst noch kaum innerhalb Brasiliens in Buchform veröffentlicht. Vielleicht kann diese Bemühung die Szenerie ändern, und dieser Artikel ein andauernder Prozess werden. Obwohl ich dafür nicht viel Hoffnung habe, da ich nicht erwarte, dass dieser Planet noch lange überleben wird.
Ricardo Domeneck
Berlin, April 2014
(aus dem Englischen übersetzt von Oravin)