„Ich trage diesen Vorwurf als einen Ehrentitel“ (Amos Oz)

In Interview, Reflexionen by Max0 Comments

Der israelische Schriftsteller Amos Oz über seinen neuen Roman „Judas“ (Suhrkamp 2015). Gemeinsam mit der Übersetzerin Mirjam Pressler ist er Preisträger des Internationalen Literaturpreises – Haus der Kulturen der Welt 2015. Aus diesem Anlass sprach Max Czollek im Auftrag des frankfurter Onlinemagazins Faustkultur mit Oz über seinen Roman, dessen historische und literarische Referenzen sowie über den Stellenwert von Übersetzungen.

*

Max Czollek: Lieber Amos Oz, ich gratuliere Ihnen und Mirjam Pressler zum Internationalen Literaturpreis 2015!

Amos Oz: Vielen Dank!

Laut eigener Darstellung interessiert sich der Internationale Literaturpreis für die Interaktion zwischen nationalen Kultur- und Denkökonomien. Meine erste Frage lautet deshalb: Wie wurde „Judas“ in Israel aufgenommen?

Kontrovers! Wie fast alle meine Arbeiten, wie fast alles in Israel. Manche Interpreten lasen das Buch als politisches Manifest, andere wiederum waren unglücklich darüber, dass es sich nicht mit der gegenwärtigen politischen Situation in Israel befasst. Aber es gab auch positive Kritiken, sogar einige enthusiastische Reaktionen von Seiten der Leserinnen und Leser.

Wurde das Buch denn viel gelesen in Israel?

Ja, gemessen an israelischen Maßstäben war das Buch sehr erfolgreich. In acht Monaten wurden ca. 30.000 Exemplare verkauft, was beachtlich ist für so ein kleines Land.

Ihre Bücher haben auch in Deutschland großen Erfolg. Für die Generation meiner Eltern war der wohl bekannteste israelische Autor Ephraim Kishon. Gibt es bei der deutschen Rezeption Ihrer Bücher einen Kishon-Effekt?

Wissen Sie, es ist nicht an mir, die Frage zu beantworten, warum Deutsche die Dinge bevorzugen, die sie bevorzugen.

Lassen Sie mich die Frage noch einmal anders stellen: Während die Stimmen israelischer Linker in Israel nicht viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen, ist das im Ausland anders. Ist das Ausland also gerade für Sie als meistübersetzter israelischer Autor eine Art Hallraum, um die eigene politische Stimme zu verstärken?

Mir ist die Reaktion auf meine Bücher in einem Lokalblatt einer israelischen Kleinstadt wichtiger als eine Rezension in der New York Times, der FAZ oder im Guardian. Denn ich schreibe zuallererst für eine hebräischsprachige Öffentlichkeit, für Israelis. Möglicherweise ist die Rezeption meiner Bücher in anderen Ländern auch beeinflusst von meiner politischen Haltung. Aber steht dahinter wirklich ein Verständnis dieser Haltung oder eher eine vage Sympathie für ein moderates, friedliebendes Israel? Da bin ich mir nicht so sicher. Offensichtlich gibt es ein Missverständnis, insbesondere unter linken Intellektuellen in Europa, die annehmen, die israelische Linke sei ebenfalls eine pazifistische Bewegung. Das ist sie nicht! Für einen europäischen Pazifisten ist das ultimative Böse Krieg. Für mich ist das ultimative Böse Aggression. Und Aggression muss meiner Meinung nach manchmal mit Gewalt begegnet werden. Das ist ein wesentlicher Unterschied, der nicht immer verstanden wird.

Der Blog zum Internationalen Literaturpreis vermerkt, dass „Judas“ ein neues Genre entwerfe, nämlich einen „postmodernen Realismus“. Dazu heißt es: „Die Postmoderne spielt mit der Kontingenz des Lebens, ihre Romane spielen mit dem Leser, der dieses Spiel nur beenden kann, indem er sich für eine bestimmte Lesart entscheidet“. Wie würden Sie dieses Spiel spielen?

Dieses Buch ist wie ein Kammermusikstück. Zunächst geht es um eine unerwartete Intimität, die sich zwischen drei sehr unterschiedlichen Menschen entwickelt: einem jungen, revolutionären Idealisten, einem zynischen, ernüchterten alten Mann und einer tief verwundeten, wütenden Frau mittleren Alters. Die Ansichten dieser drei Menschen sind nicht nur sehr unterschiedlich, sondern stehen im Widerspruch zueinander. In dem Buch geht es um Loyalität, Betrug, Verrat, Enttäuschung und Desillusionierung. Dabei erzeugt es einen kaleidoskopischen Effekt, so dass man die Geschichte auf unterschiedliche Weise wahrnehmen kann.

Postmoderner Realismus also! Eine Frage zur Intertextualität: Bei der parallelen narrativen Konstruktion des Buches zwischen Judas-Geschichte und dem Israel der Jahre 1959/60 musste ich an „Der Meister und Margarita“ des russischen Autors Michail Bulgakow denken. Auch bei Bulgakow handelt es sich darum, eine Gegenwart – in diesem Fall die russische – vor dem Hintergrund von Jesu Verurteilung durch Pontius Pilatus zu verarbeiten. War Bulgakow ein Vorbild für Sie beim Schreiben des „Judas“?

Sicherlich hatte Bulgakow einen gewissen Einfluss auf die Entstehung des Buches. Allerdings keinen allzu linearen. Bulgakows zentraler Protagonist in seiner Version der Passionsgeschichte ist Pontius Pilatus, nicht Judas. Wenn ich mich nicht irre, wird Judas in „Der Meister und Margarita“ nicht einmal erwähnt, zumindest spielt er keine wichtige Rolle. Darüber hinaus weist Bulgakow Jesus eine andere Rolle zu als ich – Jesus betritt die Bühne als ein Gott und verlässt sie als ein solcher. In meinem Buch betritt Jesus die Geschichte als Gott und verlässt sie als ein wundervoller Mensch. Das ist ein grundlegender Unterschied. Aber die Idee zu einer Parallelisierung einer problematischen politischen Realität mit Szenen aus dem Prozess und Tod von Jesus Christus verdanke ich sicherlich Bulgakow.

Warum die Parallelisierung der Geschichte des Zionismus mit der Geschichte von Judas, den Sie als „Tschernobyl des europäischen Antisemitismus“ bezeichnet haben?

Ohne den europäischen Antisemitismus, ohne den christlichen Antisemitismus, wäre der Zionismus wahrscheinlich nicht entstanden. Das Land, in dem wir uns gerade befinden und dieses Interview führen, ist ein beeindruckendes Beispiel für die Geschichte von Juden, die verzweifelt versuchten, von der sie umgebenden Mehrheitsgesellschaft integriert und geliebt zu werden. Das hat nicht funktioniert. Das hat nirgendwo funktioniert.

Denken Sie, dass Abrabanel, hätte er existiert, eine reale politische Alternative zum Zionismus vorgeschlagen hätte?

Manche der israelischen Kritiker des Buches meinten, dass sich hinter Abrabanel eine sehr kleine Gruppe Intellektueller um Gershom Sholem und Martin Buber verberge, die in den 1930er und 1940er Jahren in Jerusalem lebte und an eine binationale Lösung glaubte. Aber das ist nicht Abrabanel. Im Gegensatz zu jenen Intellektuellen war Abrabanel nicht ein Kind des zentraleuropäischen Pazifismus zwischen den beiden Weltkriegen, sondern ein Kind Jerusalems, zuhause unter Arabern wie unter israelischen Juden. Darüber hinaus war er nicht für einen binationalen Staat, sondern stellte die Idee von Nationalstaaten selbst in Frage.

Also eher eine Perspektive, die unter orthodoxen Juden zu finden ist?

Ja! Er glaubte an eine Welt, in der es weder Platz für den Zionismus noch für irgendeinen Nationalismus geben würde. Eine Welt ohne Staaten! 1.000 Traditionen, 100 Zivilisationen, keine Grenzen, keine Pässe. Ich glaube, Abrabanel entwirft damit ein sehr überzeugendes Argument. Aber Gerschom Wald formuliert ein überzeugendes Gegenargument, das auch von Ben-Gurion stammen könnte, dessen Geist in dem Buch ohnehin sehr präsent ist. Es lautet: Eine Welt ohne Staaten ist eine wunderbare Idee, aber warum sollten die Juden die Ersten oder die Einzigen sein? Jahrtausendelang haben sie in dieser Hinsicht eine One-Man-Show gegeben. Ich habe „Judas“ nicht geschrieben, um meinen Leserinnen und Lesern zu sagen: Stimmt für Abrabanel oder für Ben-Gurion. Oder für Jesus. Oder für Judas. Oder für Gerschom Wald.

So habe ich das Buch auch nicht gelesen, auch nicht als ein Buch über Verräter, denn die Verräter sind in „Judas“ eigentlich die größten Idealisten. Für mich handelt das Buch von Enttäuschung …

… ja, und nicht nur von Enttäuschung, sondern auch von Desillusionierung. Am Ende des Buches sind alle desillusioniert. Gleichzeitig handelt es aber auch von jener sonderbaren Intimität, die zwischen den drei völlig fremden Antagonisten entsteht. In meinen Augen ist das eine Art säkulares Wunder. Wie genau es passiert, dass diese drei Antagonisten sich fast anfangen zu lieben, weiß ich noch immer nicht zu sagen – und ich habe das Buch ja mittlerweile schon ein paar Mal gelesen.

Das heißt, Sie wussten es noch nicht, als Sie mit dem Schreiben begannen?

Nein, ich wusste wirklich nicht, dass das passieren würde.

Bedeutet das, dass sich die Dynamik zwischen den Figuren bis zu einem gewissen Grad Ihrer Kontrolle entzieht?

Ja, und das ist der Normalfall! Wenn die Charaktere nicht an einem gewissen Punkt die Kontrolle übernehmen, dann weiß ich, dass ich einen Schwangerschaftsabbruch erleben werde.

Der Internationale Literaturpreis konzentriert sich nicht nur auf die Interaktion zwischen politischen Sphären, sondern auch auf die Interaktion zwischen Autoren, Lesern, Übersetzern und Verlegern. Wie funktioniert die Zusammenarbeit mit Mirjam Pressler?

Mirjam arbeitet sehr selbständig, und ich kann kein Deutsch, weshalb ich ihr auch nicht von großer Hilfe sein konnte. Sicherlich, ein paar Fragen hat sie mir gestellt, aber eigentlich tauschen wir uns nicht viel darüber aus. Dieses Verhältnis ist aber nicht unbedingt typisch. Mit meinem englischen Übersetzer zum Beispiel arbeite ich sehr eng zusammen. Wie dem auch sei, ich bitte alle Übersetzerinnen und Übersetzer: Übersetzen Sie den Text nicht wörtlich, um dem Text gerecht zu werden. Ich denke, die Kunst des Übersetzens handelt von der Suche nach einem Äquivalent, einem Ausdruck, einer Metapher, die den gleichen Effekt hat wie das Original.

Sie bitten die Übersetzer also nicht nur darum, gute Leser zu sein, sondern auch gute Autoren?

Ja, auf eine gewisse Art sind Übersetzer auch Koautoren und Koautorinnen. Für sie sind meine Bücher Musiknoten, und sie sind die Musiker, die das Stück zur Aufführung bringen.

Der hebräische Titel des Buches lautet הבשורה על פי יהודה („Das Evangelium nach Judas“). Im Deutschen heißt der Roman aber nur „Judas“. Warum?

Der Grund für den hebräischen Titel ist einfach zu erklären: Wenn ich das Buch auf Hebräisch „Judas“, also „Jehuda“, genannt hätte, dann wäre das ein völlig belangloser Titel wie „Shimon“, „Menasseh“ oder „Levi“. Stellen Sie sich einmal vor, Sie würden ein Buch auf Deutsch schreiben und es „Hans“ nennen. Das wäre vergleichbar mit der Belanglosigkeit des Namens „Jehuda“ für ein hebräisches Publikum. Ich habe darauf bestanden, dass das Buch in jeder anderen Sprache „Judas“ heißen soll.

In welche Sprachen wird das Buch gerade übersetzt?

In 23 Sprachen! Die wichtigste Übersetzung davon ist die ins Arabische, die ein kleiner Verlag in Beirut übernommen hat. Der Verleger ist ein sehr mutiger Mann, der bereits „Eine Geschichte von Liebe und Finsternis“ und „Mein Michael“ übersetzt hat und dafür auch Todesdrohungen von der Hisbollah erhielt.

Warum ist die Übersetzung ins Arabische am wichtigsten für Sie?

Weil in einer von Hass vergifteten Atmosphäre, die von Stereotypen dominiert wird, die Literatur des Gegners ein wichtiges Gegenmittel darstellt. Denn diese Literatur zeigt dir, wie sehr das Wohnzimmer, Kinderzimmer und Schlafzimmer deines Feindes deinem ähneln.

Eine letzte Frage. In Ihrem Buch gibt es zwei – vermeintliche – Verräterfiguren: Judas Ischariot (der Jesus für einen Messias hält und darum ans Messer liefert) und Schealtiel Abrabanel (der Ben-Gurion einen „Messiaskomplex“ vorwirft). Beide „Verräter“ handeln eigentlich aus Liebe und Idealismus, werden dann aber falsch verstanden. Nun gibt es auch den Autor und politischen Aktivisten Amos Oz, den Gründer von „Peace Now“ und Verfechter einer israelischen Linken, die viele Israelis als Verrat bezeichnen. Hat Ihre eigene Position die Darstellung im Buch beeinflusst?

Ja, sicherlich! Man hat mich in meinem Leben schon sehr, sehr oft einen Verräter genannt. Das erste Mal im britisch regierten Jerusalem, als ich achteinhalb war und mich mit einem britischen Sergeant anfreundete. Diese Freundschaft wurde entdeckt, und meine Freunde nannten mich einen Verräter. Das letzte Mal ereignete sich während des israelischen Angriffs auf Gaza letzten Sommer. Ich trage diesen Vorwurf als einen Ehrentitel. Ich glaube, Schmuel Asch hat etwas dazu zu sagen, wenn er erklärt, dass ein Verräter manchmal derjenige sei, der sich ändert, während diejenigen, die ihn einen „Verräter“ nennen, den Wandel ablehnen oder ihm zumindest sehr misstrauisch gegenüberstehen. Wenn ich mir die Geschichte anschaue, dann befinde ich mich mit dieser Zuweisung, ein Verräter zu sein, in hervorragender Gesellschaft.

Vilém Flusser würde sagen, dass dem Wandel ein Impuls vorausgehen muss, der von den „Juden“ ausgeht. Könnte ich also sagen, dass Sie sich als Verräter sehr jüdisch benehmen in einem Land voller Juden?

(lacht) Nun ja, ich kann meine jüdischen Wurzeln nicht verleugnen. Ich werde Ihnen die Antwort auf eine Frage geben, die Sie mir nicht gestellt haben: Es ist nicht nur so, dass ich tief verwurzelt bin in jüdischer Tradition, Geschichte und dem jüdischen Martyrologium. Ich bin auch der Sohn eines Mannes mit dem Namen Jehuda und der Vater eines Mannes mit demselben Namen. Mein Sohn Daniel Jehuda Arieli ist nach meinem Vater benannt. Ich bin der Sohn von Judas und der Vater von Judas. Dieser Name ist also sehr wichtig für mich!

Gespräch und Übersetzung aus dem Englischen: Max Czollek.

Der Artikel erschien ursprünglich auf www.faustkultur.de (hier). Reposting mit freundlicher Genehmigung von Faustkultur.

Kommentar verfassen