21. Band von „DAS GEDICHT“

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Am 15. Oktober erschienen: Die neue Ausgabe von DAS GEDICHT: „Pegasus & Rosinante“ – der Themenschwerpunkt des 21. Bandes: Das Reisen. Herausgegeben von Michael Augustin und Anton G. Leitner. Mit Beiträgen von Jan Wagner, Ulla Hahn, Hellmuth Opitz, Johannes Kühn, Mario Wirz (verst. 2013), Gerhard Rühm, Joachim Sartorius, Ror Wolf und vielen anderen.

„wie nun die deutsche Bundeskanzlerin
mit vertretern der Rüstungsindustrie
nach china und saudi-arabien
aufbricht zieht es den Wirtschaftsminister
nach griechenland im gefolge einer
gruppe solaranlagenhersteller
keine beachtung in den medien
findet claudias reise nach budapest
gerd fliegt zum vögeln nach georgien“
(Aus dem Gedicht „Konstellationen“ von Manfred Chobot)

Reise – dieses Wort vermag sehr viel zu bedeuten; es ist ein Wort mit einem freien Kern und vielen Neigungen, sowohl zum Spirituellen hin, als auch zum Literarischen; in seiner kleinen typographischen Fläche birgt es viele große Räume.

Es vermittelt Bewegung, aber auch Erfahrung; es enthält den Aspekt des Erlangens, Erschließens, aber auch den des Verlassens – des nicht Verweilenden; es hat tonale Kammern des Flüchtigen, wie auch des Bleibenden und es ist stets umgeben von den Ideen der Entfernung. Was ist Reisen letztlich anderes, als etwas, das wir alle tun, in jeder Bewegung? Valerys Gedicht „Bewegung“, mit den Zeilen: „Räume in Räumen/träumen/von der Zeit“… – ist Reisen nicht wirklich vielmehr Vorstellung als Tun, eine bestimmte Idee der Bewegung, des Daseins an sich? Ist nicht schon der Weg von einem Gedanken zum anderen eine Reise – von einer Assoziation zur anderen, wie es oft im Gedicht geschieht?

Würde man ein Buch suchen, das die Substanzen der Reise einfängt, könnte man sicherlich viele Reiseberichte wälzen und darin das ein oder andere Kleinod finden. Wenn es darum geht, das Reisen als ein Wort mit vielen Richtungen und Wirklichkeiten zu begreifen, ist wohl kein Buch so empfehlenswert, wie die 21 Ausgabe von „Das Gedicht“ mit dem Themenschwerpunkt „Reisen“.

Im Reisen liegt auch heute noch eine Wehmut, eine sehr unschuldige (auch wenn einige der Gedichte dieses Bandes zeigen, dass sie gar nicht so unschuldig ist). Man nehme, um die Macht dieser Unschuld und Magie zu demonstrieren, z.B. Ende des Gedichtes von Annette Hagemann „Privilegien der Jugend“:

„der liebe vertrauen dem zugrattern den rhythmisch klopfenden sprüchen
der clique und erst viel später begreifen dass das fangnetz für all diese salti
gewebt ist aus reiner imagination aus bloßem wollen so wie alle im leben“

„Ein Gegenstand ist nicht das Wort, das man an ihn richtet, sondern die Summe seiner Möglichkeiten, denen nur die Vorstellung Grenzen zu setzen vermag.“ (Paul Groussac)

„Das Gedicht“ bleibt sich auch in dieser Aufgabe treu und erweitert die Idee des gewählten Themas und dessen Perspektive mit einer Vielzahl von Gedichten, in verschiedenen Sprachen, Längen und Formen. Obwohl viele Gedichte nur am Rande vom Reisen handeln und vielmehr vom Verweilen an Punkten innerhalb der Reise, von den Zielen (die natürlich etwas über die Reise aussagen), kommt dabei ein sehr stimmiges Bild von Entfernungen, Globalität und Reiseerkenntnis zum Vorschein.

Gedichte haben letztendlich die Aufgabe unseren Horizont zu erweitern, wie es das Reisen ja ebenfalls tut; zunächst sprachlich, aber auch mit dem Potential uns zu zeigen, dass Worte durchaus als Landkarte für das Sein eingesetzt werden können – dass ihnen nicht fremd ist, was tattäglich passiert, was wir erfahren und erleben und bedenken.

Der Herbst hat ein neues Album draußen
[…]
die Nadel setzt auf
in den knisternden Rillen des Morgens

und schon vom ersten Akkord an
das alte Lied: die hingetrüffelten Hotels
[…]
die Refrains der Pärchen auf den Piers
und was nicht fehlen darf: das Solo

einer Silbermöwe überm Rauschen
dem Synthesizer der Gezeiten
[…]
der Blues dichtgemachter Imbissbuden
[…]
jedes Jahr um es nochmal zu hören

wie er die Buchen vom Blatt spielt,
die EverGreens EverYellows EverFalls.“
(Aus dem Beitragsgedicht von Hellmuth Opitz)

Reisen heißt an verschiedenen Orten sein und doch am immer gleichen: dem eigenen, mit der eigenen Erfahrung, der eigenen Idee von allem was einem umgibt. Man kann sich selbst nicht entkommen: auch diese Wesenheit scheint durch viele Gedichte durch. Aber wenn man die Umgebung ändert, kann man sich auch zu kleinen Teilen selbst verändert, weil jede Umgebung ein Teil von einem wird. So geschehen in Reisegedichten natürlich auch viele Reflexionen über die eigene Position, den eigenen Willen, die eigene Wahrnehmung.

„Der Wald gerinnt, die Kämme funkeln
Von oben her, von unten rauf; –
Die Sonne spinnt, die Kähne schunkeln,
Die Villen gehn wie Sterne auf.

Der See liegt Grün, ein dunkles Wesen
Aus Schönheit und Verlassenheit:
Wir sprechen noch vom Blick-Genesen,
Jedoch schon in Vergangenheit.“
(Aus dem Gedicht „Cadenabbia“ von André Schinkel)

Reisen heißt auch Innehalten. Wir reisen nicht nur zielstrebig, wir reisen auch nebenbei. Dieses „nebenbei“ zu bemerken, seine Präsenz und seinen speziellen, tiefen Klang, ist eine der wertvollen Erfahrungen der Kunst. Der Kunst, die sowohl einen eigenen Blick konstruieren, als auch den unseren nur modifizieren, mit einem Updaten versehen kann. Letzteres ist ein besonders interessanter Vorgang, der eine alte Wahrnehmung von einem ganz anderen Ort (in unserer Vergangenheit) herbeiholen kann (mit Vorstellungen mischt) und sie uns plötzlich wieder nahbringt.

Portrait des Dichters als
Smartphone-User am steinernen

Strand ganz ohne Kieselstein
im Mund und dennoch vom

Rauschen des Meeres zum
Schreien gezwungen
[…]
gegen die Strahlen

der Abendsonne gelehnt,
die der Touchscreen blendend

spiegelt
(Jürgen Bulla)

Reisen haben meist einen Anfang und ein Ende und doch wiederstreben dem Wesen des Wortes, seiner Idee, gerade diese beiden Worte, weil es in allem existieren kann, nur nicht in diesen beiden Begriffen, die es begrenzen. Auch darum geht es, ganz zuletzt in Gedichten (und in vielen anderen Künsten): die Darstellung von der lineraren Erfahrung der Zeit und des Raums zu lösen; in Worten und Gedichten sind die Bedingungen nicht zeitlich und nicht räumlich, sie sind wesentlich. Und deswegen sollte man Gedichte lesen, als eine Chance, Momente als Raum wahrzunehmen und gleichsam Wahrnehmung als etwas zeitlich Unbegrenztes, Dichtes. Kurzum: Gedichte als Abbildung einer Lebenswirklichkeit, der wir alle angehören und die es wirklich lohnt, das wir sie von außen, durch die Worte, betrachten.

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